Inspector Alan Banks 15 Eine seltsame Affäre
schüchtern. Aber gleichzeitig klug und ehrgeizig. Wie gesagt, sie setzte sich für andere ein. Und sie war lustig. Ich mochte ihren Humor. Wir haben immer The Office auf DVD geguckt und uns dabei halb tot gelacht. Wir hatten nämlich beide schon in solchen Büros gearbeitet. Wir wussten, wie es da läuft. Das wird mir fehlen«, fügte Kate hinzu. »Jenn wird mir fehlen.« Erneut weinte sie und griff nach den Taschentüchern. »Tut mir leid. Ich schaff's einfach nicht...«
»Schon gut«, gab Annie zurück. »Haben Sie sie immer Jenn genannt, nicht Jenny?«
Kate schniefte und putzte sich die Nase. »Ja. Sie wollte Jenn genannt werden. Jenny konnte sie nicht ausstehen. Sie war einfach keine Jenny. Wahrscheinlich so, wie ich keine Katy oder Kathy bin.«
Und ich keine Anne, dachte Annie. Schon komisch, wie man sich an Namen gewöhnte, besonders an Abkürzungen. In ihrer Kindheit und Jugend in der Künstlerkolonie war sie immer Annie gerufen worden, nur in der Schule hatte man sie Anne genannt. »Sie müssen sich doch mit ihr unterhalten haben. Über was hat sie gerne geredet?«
»Ach, das Übliche.«
Verdammt noch mal, dachte Annie, das war wirklich zum Mäusemelken. »War sie in letzter Zeit irgendwie verändert? Benahm sie sich anders?«, wollte sie wissen.
»Ja, in letzter Zeit war sie nervös und gereizt. Ganz gegen ihre Art.«
»Nervös? Seit wann?«
»Nur in den letzten Tagen.«
»Sagte sie, woran das liegen würde?«
»Nein, sie war eher noch stiller als sonst.«
»Glauben Sie, dass das im Zusammenhang mit ihrer Reaktion auf den Anruf gestern Abend steht, mit ihrem späten Aufbruch?«
»Weiß nicht«, erwiderte Kate. »Könnte sein.«
Das Problem war, dass Jennifers Handy ebenso wie ihre übrigen Habseligkeiten verschwunden waren. Vielleicht würde die Telefongesellschaft ihnen helfen können.
»Wissen Sie, welchen Anbieter sie hatte?«
»Orange.«
Annie merkte es sich. »Haben Sie irgendwo eine Schriftprobe von Jennifer?«
»Was?«
»Jenns Handschrift auf einem Zettel oder so. Einen Brief, eine Postkarte?«
Kate sah zu einer Pinnwand neben der Tür hinüber. Daran hingen mehrere Cartoons von Gary Larson und einige Postkarten. Sie stand auf und nahm eine Karte ab, eine Ansicht des Eiffelturms, und reichte sie Annie. »Jenn war im März ein Wochenende in Paris«, erklärte Kate. »Die hat sie mir geschickt. Wir fanden es lustig, weil sie eher wieder hier war als die Karte.«
»Ist sie alleine gefahren?«, wollte Annie wissen und holte eine Kopie des Zettels aus der Tasche, den man in Jennifer Clewes' Gesäßtasche gefunden hatte. Sie wollte die Handschrift vergleichen.
»Ja. Sie meinte, sie hätte immer schon mal mit dem Eurostar fahren wollen, es war ein Sonderangebot. Sie ging in alle Kunstgalerien. Jenn besuchte gerne Museen und Ausstellungen.«
Für Annies ungeschultes Auge wirkten die Schriften identisch, aber das würde ein Fachmann bestätigen müssen. »Darf ich die behalten?«, fragte sie.
»Denke schon.«
Annie steckte Kopie und Postkarte in ihre Tasche. »Sie sagten, Jennifer fuhr allein«, nahm sie den Faden wieder auf, »aber ist Paris nicht die Stadt der Liebe?«
»Jenn hatte damals keinen Freund.«
»Und in letzter Zeit?«
»Ich glaube schon.«
»Sie glauben es nur?«
»Hm, Jenn konnte sehr zurückhaltend sein. Ich meine, sie trug ihr Herz nicht auf der Zunge. Aber sie bekam in letzter Zeit viele Anrufe auf dem Handy und telefonierte auch selbst viel. Und sie blieb ein paarmal über Nacht fort. Das machte sie sonst nicht.«
»Seit wann?«
»Seit ein paar Wochen.«
»Aber schon bevor sie sich komisch benahm?«
»Ja.«
»Hat sie Ihnen seinen Namen verraten? Es war doch wohl ein Mann, oder?«
»Ja, klar, natürlich. Aber nein, sie hat keinen Namen genannt. Sie hat mir ja nicht mal gesagt, dass sie mit jemandem zusammen ist. Ich habe das einfach aus ihrem Verhalten geschlossen. Intuitiv. Habe zwei und zwei zusammengezählt.«
»Aber Sie sagten, Jennifer sei nervös und gereizt gewesen. So fühlt man sich doch nicht unbedingt am Anfang einer neuen Beziehung, oder? Und warum war sie so verschlossen? Haben Sie sich denn nie über persönliche Dinge unterhalten, sagen wir mal, wenn die eine gerade mit ihrem Freund Schluss machte oder so?«
»Wir wohnten erst seit sechs Monaten zusammen«, erwiderte Kate. »Und in der Zeit ist
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