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Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht

Titel: Inspector Alan Banks 17 Wenn die Dämmerung naht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Robinson
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Möglichkeit ausgesprochen hatte. »Das glaube ich nicht«, sagte er.
      »Ich versuche bloß, nach allen Seiten offenzubleiben«, sagte Dr. Burns.
      »Ich weiß«, entgegnete Banks. »Tun wir alle. Aber was glaubte wohl der Mörder, was Kevin tat?«
      »Wie meinen Sie das?«
      »Nichts. Musste nur an etwas denken.« Ihm war wieder Annies Ermittlung eingefallen. Lucy Payne in ihrem Rollstuhl, die Kehle mit einer scharfen Klinge durchtrennt, einer Rasierklinge oder einem Skalpell, ähnlich der Waffe, die bei Templeton benutzt worden war.
      »Ich bin mir sicher, dass Dr. Wallace sich so schnell wie möglich um die Sektion kümmern wird«, sagte Dr. Burns. »Sie müsste Ihnen mehr verraten können.«
      »Gut«, sagte Banks. »Und danke. Jetzt fahre ich besser ins Krankenhaus und spreche mit der Zeugin.« Während er zum Auto ging, dachte er an Lucy Payne. So bald wie möglich würde er Annie in Whitby anrufen und sich mit ihr verabreden, um ihre Erkenntnisse abzugleichen.
     
    Es war nicht so, dass Annie tief und fest schlief beziehungsweise, dass sie überhaupt schlief. Banks hätte sie sofort anrufen können, sie wäre wach genug gewesen, um sich mit ihm zu unterhalten. Irgendein Geräusch hatte sie aus einem Alptraum geweckt, und sie hatte im Bett gelegen, reglos, und angestrengt gelauscht, bis sie überzeugt war, dass das alte Haus einfach nur geknarrt hatte, mehr nicht. Wer sollte es denn schon gewesen sein? Eric, der sie holen kam? Phil Keane, der zurück war? Die Männer, die sie vergewaltigt hatten? Sie durfte nicht zulassen, dass ihr Leben von Angst beherrscht wurde. Sosehr Annie sich auch anstrengte, der Traum fiel ihr nicht wieder ein.
      Weil sie nicht mehr schlafen konnte, stieg sie aus dem Bett und stellte den Wasserkessel an. Sie hatte einen trockenen Mund und stellte fest, dass sie am Abend fast eine ganze Flasche Sauvignon Blanc getrunken hatte. Das wurde langsam zur Gewohnheit, zu einer schlechten.
      Annie spähte durch die Vorhänge über die Dächer hinunter bis zum Hafen, wo der Mond das Meer wie mit Eis überzog. Sie überlegte, ob sie über Nacht besser nach Harkside gefahren wäre, doch sie war gern nah am Wasser. Es erinnerte sie an ihre Kindheit in St. Ives, an die langen Wanderungen über die Klippen mit ihrem Vater, der immer wieder stehen blieb, um ein verrostetes Arbeitsgerät oder eine besonders interessante Gesteinsformation zu zeichnen, und Annie so lange sich selbst überließ. Dort hatte sie gelernt, sich ihre eigene Welt zu schaffen, einen Ort, an den sie flüchten konnte, wenn die Wirklichkeit zu schwer zu ertragen war, wie damals, als ihre Mutter gestorben war. Annie war sechs Jahre alt gewesen. Sie konnte sich nur an eine Wanderung mit ihrer Mutter erinnern, während der sie ihre Tochter den ganzen holprigen Klippenpfad entlang an der Hand gehalten hatte. Sie hatten gegen Wind und Regen angekämpft, und die Mutter hatte Annie Geschichten über die Orte erzählt, die sie eines Tages besuchen würden: San Francisco, Marrakesch, Angkor Wat. Wie so vieles in Annies Leben würde es nie dazu kommen.
      Das Wasser kochte, Annie goss es auf den Jasminteebeutel im Becher. Als der Tee fertig war, holte sie den Beutel mit einem Löffel heraus, gab Zucker hinzu und setzte sich mit dem wohlriechenden Getränk wieder hin, umfasste den Becher mit beiden Händen und sog den Duft ein. Sie blickte nach draußen aufs Meer, beobachtete, wie das Mondlicht auf der gekräuselten Fläche schimmerte und die Struktur und silbergraue Farbe der Wolken vor dem blauschwarzen Himmel zur Geltung brachte.
      Während Annie so dasaß und ins Dunkel schaute, fühlte sie sich seltsam verbunden mit der jungen Frau, die vor achtzehn Jahren nach Whitby gekommen war. War es Kirsten Farrow gewesen? Hatte sie vor so vielen Jahren den gleichen Ausblick gehabt wie Annie und dabei einen Mord geplant? Natürlich billigte Annie diese Tat nicht, aber sie spürte ein gewisses Verständnis für die gequälte Seele. Sie wusste nicht, was die junge Frau gefühlt hatte, aber wenn sie wirklich getan hatte, was Annie vermutete, und wenn es tatsächlich Kirsten Farrow gewesen war, dann hatte sie einfach keine andere Möglichkeit gefunden, sich an dem Mann zu rächen, der sie zu einem Schicksal als lebende Tote verdammt hatte. Es gab Beschädigungen, die einen weit über die allgemeinen Regeln und Systeme von Ethik und Moral hinausbrachten - hic sunt dracones, wie es auf alten Seefahrerkarten hieß. Die junge

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