Inspector Barnaby 04 - Blutige Anfänger
Er hatte plötzlich zehn linke Daumen, so daß es ewig dauerte, bis er das Kuvert aufgerissen hatte. Doch dann fiel alles auf einmal heraus.
Als Barnaby nach Arbury Crescent< zurückkam, lag eine Postkarte von Cully auf der Kommode. Diese zeigte eine Schwarz-Weiß-Ansicht des Palais Radziwill in Warschau. Die Grüße auf der Rückseite waren wie üblich knapp und unsentimental: Spielen in großen Häusern. Werden überall herumgereicht. Wetter gut. Nicholas geht es gut. Mir geht es gut. Vergeßt nicht The Crucible auf Video aufzunehmen. Küßchen, Küßchen, Küßchen.
Wie so oft stellte sich Barnaby die Frage nach Cullys Gefühlen den Eltern gegenüber. Liebte sie sie? Selbstverständlich, gab er sich selbst die Antwort. Schließlich dürften jahrelange liebevolle Sorge und Pflege ja nicht ganz verschwendet gewesen sein.
Allerdings war nichts selbstverständlich auf dieser Welt. Kinder nahmen die Herzen der Eltern mit einer geradezu fahrlässigen Selbstverständlichkeit in Beschlag und betrachteten die ihnen entgegengebrachte Liebe als das mindeste, was sie erwarten konnten. Nur die Verzweifelten und Alleingelassenen, jene Jugendlichen also, denen das Leben schon tiefe Wunden beigebracht hatte und mit denen Barnaby soviel Zeit verbrachte, erkannten die tiefere Bedeutung eines solchen Privilegs.
Joyce beobachtete ihren Mann, wie er stirnrunzelnd auf die Postkarte starrte. Er hatte seine >Besser-als-nichts-Miene aufgesetzt. Der Lichtschein erfaßte sein noch immer dichtes graumeliertes Haar. Es war dreizehn Stunden her, seit er ins Präsidium gefahren war, und sie erkannte an seinen abwesenden, automatischen Bewegungen, daß er sich gedanklich noch nicht von seiner Arbeit gelöst hatte.
Es gab Fälle, da war das so. Dann verlor sie ihn. Mußte zusehen, wie er in ein anderes Universum eintauchte, in dem ihr keinerlei Bedeutung zukam. Natürlich sprach er häufig mit ihr über das, was ihn beschäftigte. Aber solche Gespräche waren keineswegs als Diskussionen oder geistige Auseinandersetzungen mißzuverstehen.
Joyce Barnaby hatte schon sehr früh in ihrer Ehe begriffen, was es bedeutete, die Frau eines Polizisten zu sein: Einsamkeit, unregelmäßige Tagesabläufe, Isolation und die ständige Angst, daß sie den Mann eines Tages wie einen römischen Soldaten auf seinem Schild nach Hause brachten.
Jede Polizistenfrau entwickelte ihre eigene Methode, damit fertig zu werden. Joyce hatte die für sie am sichersten erscheinende gewählt. Auch wenn Tom und später Cully die emotionalen Angelpunkte ihres Lebens waren, hatte sie stets versucht, nicht den Kontakt zur Außenwelt zu verlieren, viele Freundschaften zu schließen und aufrechtzuerhalten, und sich nebenbei mit dem zweitwichtigsten Thema in ihrem Leben zu beschäftigen: der Musik. Sie besaß eine schöne Mezzo-Sopran-Stimme und gab noch immer häufig Konzerte. In letzter Zeit hatte sie sogar begonnen zu unterrichten.
Barnaby hatte inzwischen die knappgehaltene Postkarte der Tochter auf den Fernsehapparat gelegt und starrte düster in den Spiegel über dem Kamin.
»Was schließt man daraus, wenn ein Polizist plötzlich alt aussieht?«
»Daß seine Frau schrecklichen Hunger hat.«
»Ach, wirklich?« Er lächelte ihr im Spiegel zu, drehte sich um und ging in die Küche. »Hast du alles besorgt?«
»Selbstverständlich. Allerdings habe ich Frischkäse statt Creme double genommen.«
Der erwartete Vorwurf blieb aus, und sie war überrascht, als er sagte: »Gut. Die Butter lasse ich auch weg.«
»Tom?« Er band sich die blauweiß gestreifte französische Schürze um, ohne sie anzusehn. »Was ist los?«
»Nichts.«
»Ach, komm schon.«
»Was denn?«
»Es ist doch was passiert.«
»Nein.«
Barnaby sortierte die Zutaten. Es war besser, es ihr nicht zu sagen. Sie würde sich nur Sorgen machen. Außerdem war er fest entschlossen, sich zu bessern. Sobald er diesem Fall abgeschlossen hatte, wollte er zum Arzt gehen, ein EKG machen lassen, auf seine Linie achten und vielleicht sogar ein bißchen Sport treiben.
»Soll ich die Brunnenkresse waschen?«
»Schenk mir erst ein Glas Wein ein Joycey.«
»Wenn du jetzt Wein trinkst, mußt du zum Essen drauf verzichten.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Sie öffnete den Kühlschrank, nahm eine Flasche 91iger Gran Vina Sol heraus. Barnaby, der ein Paket Lachs öffnete, bemerkte: »Wenn ich schon nur ein Glas kriege, dann kannst
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