Inspector Barnaby 06 - Ein sicheres Versteck
anstarrten. Sie trat zur Seite. Mit rotem Kopf und den Tränen nahe tat sie so, als würde sie in ihrer Handtasche etwas suchen.
Ann hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Die Ereignisse der letzten paar Tage überfielen sie plötzlich in einem Gemisch aus brutalen, von Angst erfüllten Bildern und heimtückischem Gemurmel. Misstrauisch starrte sie die Leute an, die ihr auf dem Bürgersteig entgegenkamen. Die drehten ganz cool den Kopf zur Seite, gaben sich gleichgültig und taten so, als hätten sie mit dem Geflüster nichts zu tun, doch sie wusste, dass insgeheim alle über sie lachten.
Als Louise kurz nach ihrer seltsamen Begegnung vor der Bank mit dem Auto wieder aus Causton herausfuhr, sah sie Ann leicht orientierungslos die Straße überqueren. Ihre spontane Reaktion war, ihr anzubieten, sie mitzunehmen. Sie nahm sogar den Fuß vom Gas und bremste leicht ab. Doch irgendwas schien merkwürdig an Ann. Mit einer Hand hielt sie ihren Mantel fest zusammen, obwohl das Wetter recht mild war. Die andere schwebte wie ein flatternder Vogel vor ihrem Mund. Trotzdem konnte Louise sehen, dass ihre Lippen sich bewegten. Außerdem runzelte sie die Stirn und schüttelte den Kopf.
Louise fuhr weiter. Sie hatte selber Probleme, die sich immer mehr zuspitzten. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, sich einem Menschen zu widmen, der nicht nur eindeutig verwirrt war, sondern - davon war Louise mittlerweile überzeugt - sie nicht mal mochte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, nach Causton fahren zu müssen, und das ausgerechnet am Markttag, aber sie hatte kein Geld mehr gehabt. Von Anfang an hatte Louise darauf bestanden, alle laufenden Kosten mit ihrem Bruder zu teilen und jede zweite Woche die Lebensmittel einzukaufen. Diese Woche war sie dran. Es waren einige Dinge ausgegangen, und da sich das Verhältnis zwischen Val und ihr wieder ein wenig gebessert hatte, hatte sie ihn gestern Abend gebeten, ob er ihr nicht etwas Geld leihen könnte. Er aber sagte, er hätte keins. Ohne nachzudenken und ehrlich verblüfft sagte Louise: »Aber du warst doch gerade erst bei der Bank.« Sie hatte nämlich den Auszahlungsbeleg vom Küchenboden aufgehoben und in den Müll geworfen. Er hatte sich auf vierhundert Pfund belaufen.
Im Nu schlug die Atmosphäre um, und kalte Wut erfüllte den Raum.
»Ich hab allmählich die Schnauze voll davon!« Valentine spie die Worte förmlich aus.
»Wovon?«
»Von dir. Und deiner ständigen Kritik.«
»Ich wollte doch nicht...«
»Du musst diese Woche das Essen bezahlen, stimmt's?«
»Vergiss es. Ich fahr in die Stadt.«
»Wenn du deinen Anteil nicht bezahlen willst...«
»Das ist eine Unverschämtheit.« Jetzt wurde sie laut. »Ich hab meinen Anteil bezahlt, seit ich hierher gekommen bin. Das weißt du ganz genau.«
»Tatsächlich?«
»Was glaubst du denn, wo meine Ersparnisse sonst geblieben sind?« Während sie sprach, wurde Louise plötzlich klar, was mit Valentines vierhundert Pfund passiert war. Und sie wusste, dass man ihr das ansah.
Eine Zeitlang herrschte zwischen ihnen ein bedrohliches Schweigen, dann sagte Valentine: »Ich kann diese Streitereien nicht länger ertragen. Ich muss schließlich arbeiten.« Damit wandte er ihr demonstrativ den Rücken und ging zur Treppe. »Das ist mein Ernst, Lou. Mir reicht's.«
Louise, die vor Wut und Verzweiflung zitterte, hielt es nicht länger im Haus aus. Sie ging in den Garten und setzte sich an den Teich. Was sollte sie nur machen?
Der Zorn über die ungerechten Äußerungen ihres Bruders war schon wieder verflogen. Stattdessen kamen ihr Erinnerungen an ihre Kindheit in den Sinn. Obwohl er immer der Liebling ihrer Eltern gewesen war, hatte Valentine seine Stellung nur selten ausgenutzt. Er hatte sehr früh begriffen, wie ungerecht die Situation war, und ständig versucht, ein Gleichgewicht herzustellen, indem er Bilder lobte, die sie aus der Schule mit nach Hause brachte und die ihre Mutter kaum eines Blickes würdigte, ihr bei den Hausaufgaben half und seinen Vater überredete, sie mitkommen zu lassen, wenn sie angeln gingen. Zu ihrem fünften Geburtstag hatte er ihr eine kleine Holzschachtel gebastelt, auf die Seesterne und kleine Robben gemalt waren und die sie immer noch in Ehren hielt. Und das Schönste von allem, er war immer in der Lage gewesen, sie zum Lachen zu bringen.
Bei dieser letzten Erinnerung fing Louise an zu weinen. Sie weinte bitterlich, mit offenen
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