Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
würde er in aller Frühe aufbrechen. Cary Oakes war nicht hier und eben nur lang genug da gewesen, um eine Botschaft zu hinterlassen. Rebus taten Janice und Brian Leid, es tat ihm Leid, wie es für sie gelaufen war. Aber im Augenblick waren sie das Geringste seiner vielen Probleme. Er hatte zugelassen, dass seine Perspektive sich verzerrte, und Oakes hatte schon viel zu viel Kapital daraus geschlagen.
Als er wieder hineinging, versuchte niemand, ihm das Mikrofon aufzudrängen. Mittlerweile wussten sie alle, wer er war, wussten von der Grabschändung. In einem Städtchen von der Größe Cardendens sprachen sich Neuigkeiten schnell herum. Und aus nichts anderem - aus Geschichten - bestand schließlich Geschichte.
34
Als er aufwachte, war es noch dunkel. Er zog sich an und faltete die Decken zusammen. Ließ eine Notiz auf dem Esstisch liegen, bevor er zu seinem Wagen ging und durch den schlafenden Ort fuhr. Er erreichte die Schnellstraße und trieb den Saab südwärts in Richtung Edinburgh: Morgengymnastik für den Motor.
Er fand eine Parklücke in einer Querstraße der Oxford Terrace und machte sich auf den Weg zu Patience' Wohnung. Im Flur war es dunkel. Er ging auf Zehenspitzen in die Küche, ließ Wasser in den Kocher laufen. Als er sich umdrehte, stand Patience in der Tür.
»Wo, zum Teufel, bist du gewesen?«, erkundigte sie sich in scharfem Tonfall.
»In Fife.«
»Du hast nicht angerufen.«
»Ich hatte dir doch gesagt, dass ich dahinfahre.«
»Ich hab dich auf dem Handy angerufen.«
Er schaltete den Wasserkocher ein. »Es war ausgeschaltet.« Er sah, wie sich ihr Gesicht plötzlich schmerzlich verzog. Fasste sie an den Armen. »Was ist los, Patience?«
Sie schüttelte den Kopf, hatte Tränen in den Augen, schniefte, nahm ihn bei der Hand und zog ihn in den Flur, schaltete dort das Licht ein. Er erkannte Fußabdrücke auf dem Fußboden, eine Spur, die bis zur Haustür führte.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Farbe«, sagte sie. »Es war dunkel, ich hab nicht gesehen, dass ich da reingetreten bin. Ich hab versucht, sie wegzuwischen.«
Eine weiße Schneckenspur von Fußabdrücken... Rebus dachte an die weiße Farbe auf dem Grabstein seines Vaters. Er starrte Patience an, ging dann zur Haustür und öffnete sie. Sie schaltete das Licht auf dem Vorplatz ein. Rebus sah die Farbe. In armlangen Buchstaben auf den Steinplatten hingeschmierte Wörter. Er hielt den Kopfschief, um sie lesen zu können.
DEIN BULLENLOVER HAT DARREN GEKILLT. Das Ganze unterstrichen.
»Scheiße«, keuchte er.
»Ist das alles, was du dazu sagen kannst?« Ihre Stimme zitterte. »Ich hab das ganze Wochenende lang versucht, dich zu erreichen!«
»Ich war... Wann ist das passiert?« Er ging um die Inschrift herum.
»Freitagnacht. Ich bin spät heimgekommen und gleich ins Bett gegangen. Gegen drei wachte ich mit Kopfschmerzen auf. Wollte mir ein Glas Wasser holen, hab das Licht im Flur eingeschaltet...« Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht, das immer angespannter wurde. »Ich hab die Farbe gesehen, bin hier raus und...«
»Es tut mir Leid, Patience.«
»Was bedeutet das?«
»Ich weiß es auch nicht.« Wieder Oakes. Während Rebus sich in Fife befand, war Oakes hier gewesen und hatte seinen nächsten Zug gemacht. Er wusste nicht nur von Janice, sondern auch von Patience. Und er hatte Rebus gesagt, dass er sich glücklich schätzen könne, eine Ärztin zu kennen.
Er hatte den Zug angekündigt, doch Rebus hatte die Warnung nicht verstanden.
»Du lügst«, sagte Patience. »Du weißt es verdammt genau. Er ist es, nicht?«
Rebus versuchte, sie in die Arme zu nehmen, aber sie stieß ihn weg.
»Ich hab in St. Leonard's angerufen«, fuhr sie fort. »Die haben jemanden vorbeigeschickt. Zwei Grünschnäbel in Uniform. Am Morgen ist Siobhan gekommen.« Sie lächelte. »Sie hat mich zum Frühstück eingeladen. Ich glaube, sie wusste, dass ich nicht geschlafen hatte. Da ist mir bewusst geworden, wie gefährdet diese Wohnung ist. Hinten der Garten: Jeder könnte über die Mauer steigen, durch den Wintergarten reinkommen. Oder die Haustür aufbrechen. Wer würde das schon merken?« Sie sah ihn an. »Wen könnte ich rufen?«
Er versuchte wieder, sie in die Arme zu schließen. Diesmal gelang es ihm, aber er spürte weiterhin Widerstand.
»Es tut mir Leid«, wiederholte er. »Wenn ich's geahnt... wenn's eine Möglichkeit gegeben hätte...« Freitagnacht hatte er sein Handy ausgeschaltet. Warum? Um den Akku zu schonen? Das war
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