Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
Anwälte breiteten kalte Fakten über die Emotionen anderer aus; die Angeklagten präsentierten ihre eigenen Versionen in der Hoffnung, die Geschworenen für sich einzunehmen.
Und so leicht es einem auch fiel, das alles als ein Spiel zu betrachten, als eine Art grausamen Publikumssports, konnte man es doch nicht einfach so abtun. Denn trotz all der harten Arbeit, die Rebus und andere in einen Fall investierten, war das der eigentliche Ort der Bewährung. Der Ort, an dem jeder Polizist schon früh die Lektion eingetrichtert bekam, dass Wahrheit und Gerechtigkeit weit davon entfernt waren, Verbündete zu sein, und dass Opfer mehr waren als versiegelte Aktenkästen voller Beweise, Aufzeichnungen und Aussagen unter Eid.
Früher einmal war das wahrscheinlich alles ganz einfach gewesen, theoretisch war es noch heute leicht zu fassen. Es gibt einen Angeklagten und ein Opfer. Es gibt für jede Seite je einen Anwalt, der seine Argumente darlegt und seine Beweise präsentiert. Ein Urteil wird gefällt. Aber es war alles eine Frage von Worten und Auslegungen, und Rebus wusste, dass Tatsachen sich verdrehen und entstellen ließen, dass die eine Zeugenaussage lediglich durch ihre bessere Formulierung überzeugender als die anderen klingen konnte, dass Geschworene mitunter schon vor Prozessbeginn einzig aufgrund der Erscheinung oder des Auftretens des Angeklagten entschieden, wie sie abstimmen würden. Und so verkam das Ganze zu bloßem Theater, und je geschickter die Anwälte wurden, desto spitzfindiger wurden ihre Sprachspielchen. Rebus hatte es schon vor langem aufgegeben, sie mit ihren eigenen Waffen schlagen zu wollen. Er machte seine Aussage, bemühte sich, möglichst kurz und knapp zu antworten, und versuchte, auf keinen der tausendfach erprobten Tricks hereinzufallen. Manche Anwälte sahen es in seinen Augen, erkannten, dass er das alles schon zu oft mitgemacht hatte. Sie behielten ihn nur kurz im Zeugenstand und gingen dann möglichst rasch zu erfolgversprechenderen Kandidaten über.
Und eben deshalb glaubte er nicht, dass sie ihn heute aufrufen würden. Aber trotzdem musste er die Sache aussitzen, musste im hehren Namen der Gerechtigkeit seine Zeit und Energie vergeuden.
Einer der Wachleute kam heraus. Rebus kannte ihn und bot ihm eine Zigarette an. Der Mann nahm sie mit einem Kopfnicken an, dann auch Rebus' Streichholzschachtel.
»Echt beschissen heute«, sagte der Wachmann kopfschüttelnd. Alle drei Männer starrten über den Parkplatz hinweg.
»Das dürfen wir gar nicht wissen«, erinnerte ihn Rebus mit einem verschmitzten Lächeln.
»Zu welcher Verhandlung sind Sie da?«
»Shiellion«, antwortete Rebus.
»Ist genau die, von der ich rede«, erklärte der Wachmann. »Ein paar von den Zeugenaussagen...«Er schüttelte den Kopf- ein Mann, der in seiner beruflichen Laufbahn mehr Horrorgeschichten gehört hatte als die meisten anderen Menschen.
Plötzlich wusste Rebus, warum der Mann ihm gegenüber geweint hatte. Und auch wenn er ihn mit keinem Namen in Verbindung bringen konnte, wusste er jetzt zumindest, wer er war: einer der Shiellion-Opfer.
Shiellion House lag in Ingliston Mains, praktisch um die Ecke von der Glasgow Road. In den 1820er Jahren für einen der Bürgermeister der Stadt erbaut, war es nach dessen Tod und etlichen Familienstreitigkeiten in den Besitz der Church of Scotland übergegangen. Als private Residenz wurde es für zu groß und zugig befunden; hinzu kam die Isoliertheit des Anwesens - nichts als weit auseinander liegende Bauernhöfe in der Umgebung. In den 1930er Jahren hatte man daraus ein Heim gemacht, in dem Waisen und mittellosen Kindern mittels harter Zucht und unchristlicher Weckzeiten christlicher Glaube eingebläut werden sollte. Im vergangenen Jahr hatte Shiellion endgültig dicht gemacht. Jetzt war davon die Rede, dass es zu einem Hotel oder Country Club umgebaut werden sollte. Aber in seinen letzten Jahren hatte Shiellion einen anrüchigen Ruf erlangt. Ehemalige Heiminsassen hatten Anschuldigungen erhoben: ähnliche Geschichten aus dem Mund verschiedener Zeugen, die durchweg dieselben zwei Männer betrafen.
Geschichten von Missbrauch.
Auf jeden Fall körperlicher und seelischer Misshandlung, zuletzt aber auch von sexuellem Missbrauch. Ein paar Fälle waren der Polizei zu Ohren gekommen, aber dabei hatte Aussage gegen Aussage gestanden: das Wort aggressiver Kinder gegen dasjenige ihrer ruhig und besonnen auftretenden Pfleger. Die Ermittlungen waren halbherzig durchgeführt
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