Inspektor Jury küsst die Muse
erschienen ist.»
« Wann ist sie nicht erschienen, Sir?» fragte Wiggins, der seinen Notizblock beiseite gelegt hatte, um ein Pillenfläschchen aufzuschrauben.
«Mitternacht. Ich kenne ein paar Clubs in der Gegend. Ich hatte ihr gesagt, ich würde sie in einen mitnehmen.»
Wiggins nahm seine Pille ohne Wasser; er schob sie sich unter die Zunge und nahm seinen Notizblock wieder zur Hand.
«Das heißt, Sie waren zum Zeitpunkt des Mordes im Berkeley Square Park, Mr. Cholmondeley», sagte Jury.
«Ich habe den Park nicht betreten. Ich wartete am westlichen Eingang, wo wir uns treffen wollten. Nein, ich habe auch keine Zeugen, was mich wohl zum Hauptverdächtigen macht.» Cholmondeley beugte sich über den Tisch. «Nur, was für ein Motiv könnte ich haben, Amelia Farraday zu ermorden?»
«Vielleicht das, was Sie vorhin erwähnten: Sie wurde Ihnen lästig.»
Cholmondeley betrachtete ihn spöttisch, wie um anzudeuten, Jury sollte sich gefälligst etwas Besseres einfallen lassen.
«Oder vielleicht wußte sie etwas, was Sie viel mehr in Verlegenheit gebracht hätte als diese kleine Affäre. Ich frage mich nach wie vor, wieso ein Mann wie Sie – ein gewandter und erfahrener Reisender und obendrein noch Engländer – sich einer amerikanischen Reisegruppe anschließt.»
«Ich verstehe nicht, warum Sie sich deswegen Gedanken machen.»
«Tue ich aber. Aus Ihrem Paß geht hervor, daß Sie in diesem Jahr bereits fünfmal auf dem Kontinent waren. In Amsterdam.»
«Was ist daran so merkwürdig? Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich mit Edelsteinen handele. Ich muß reisen, um meine Einkäufe zu machen.»
«Man sollte annehmen, daß Sie von Amsterdam allmählich genug haben. Diese Gruppe bleibt eine ganze Woche dort. Und Sie werden wohl kaum jemanden brauchen, der Ihnen London zeigt. Das gleiche gilt für Stratford. Sie könnten jederzeit auf eigene Faust dorthin fahren. Ich an Ihrer Stelle würde am Mittelmeer, an der Amalfi-Küste oder an der Côte d’Azur Urlaub machen – mal was anderes.»
«Superintendent, machen Sie Ihren Urlaub an der Amalfi-Küste oder sonstwo, aber überlassen Sie es mir, wo ich meinen verbringe.» Cholmondeley steckte sich eine Zigarre in den Mund und griff in seine Hosentasche. Offenbar fand er es an der Zeit zu zahlen.
«Nichts lieber als das. Nur wird aus meinem Urlaub nie etwas. Und wenn ich einmal Urlaub mache, dann arbeite ich im Gegensatz zu Ihnen nicht.»
Cholmondeley schüttelte nur den Kopf, löste einen großen Schein aus seiner Geldklammer und legte ihn auf den Tisch.
Jury schlug seinen Notizblock auf. «Die Amsterdamer Polizei hat sich mit dem Herrn unterhalten, mit dem Sie Geschäfte machen: Paul VanDerness. Mr. VanDerness ist im Grunde ein seriöser Geschäftsmann. Meistens. Nur ein- oder zweimal geriet er in den Verdacht, Diamanten zu verschieben.»
«Daran glaube ich nicht, aber selbst wenn der Verdacht sich bestätigte, was hat das mit mir zu tun?»
«Ich überlege nur, wie das Gepäck bei Alleinreisenden abgefertigt wird – im Gegensatz zum Gepäck einer Reisegruppe. Honeycutt hat seinen Kunden diese Plackerei bestimmt abgenommen. Er wird alles gestapelt und durch den Zoll gebracht haben, einen wahren Gepäckberg. Die Farradays hatten vermutlich allein schon fünfzehn Koffer. Wenn die Zöllner sehen, daß es sich bloß um amerikanische Touristen handelt, durchsuchen sie die Koffer vermutlich erst gar nicht. Oder machen nur Stichproben. Wenn ich Diamanten illegal über die Grenze schaffen sollte, würde ich mich glatt einer Reisegruppe anschließen.»
Cholmondeley klopfte mit dem kleinen Finger die Asche von seiner Zigarre. An dem Finger funkelte einer jener Diamanten, mit denen er Geschäfte machte. «Seien Sie vorsichtig, Superintendent. Ich habe nichts mehr zu sagen, außer daß meine Rechtsanwälte ganz und gar nicht begeistert sein werden.»
Jury schwieg. Er wußte, daß Cholmondeley der Versuchung, seine Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, nicht würde widerstehen können.
Und richtig. Cholmondeley steckte sein Zigarrenetui ein und fuhr fort: «Sie haben also diese irrsinnige Vorstellung, ich hätte Amelia Farraday erzählt, daß ich Diamanten schmuggle, und sie hätte mir gedroht – also wirklich, es ist absurd.»
Jury schwieg noch immer.
«Und was ist mit Miss Bracegirdle? Was mit Amelias Tochter? Ich habe sie alle ‹abgeschlachtet› – wie die Zeitungen es nennen –, nur um sie zum Schweigen zu bringen? Sie meinen, alle hätten über meine
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