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Inspektor Jury lichtet den Nebel

Inspektor Jury lichtet den Nebel

Titel: Inspektor Jury lichtet den Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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könne Sharon das ganze Haus zusammenschreien. Sie wollte bloß wissen, wo Onkel Rob war. «Er ist verschwunden.» Jessie drehte sich um und drückte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Draußen peitschte der Regen, und ihr eigenes Gesicht blickte sie an wie ein Gespenst.
    Die Schauerliche Sharon schrie. Es war kein langer und kein lauter Schrei, aber immerhin ein Schrei. Die Modezeitschrift hatte sie beiseite gelegt und las nun in der Zeitung. «Mein Gott!» Sie fuhr auf. «Vor ein paar Tagen hat man einen Gefangenen aus Princetown entlassen. Den Axtmörder – so wird er genannt.»
    Sharons kleiner Aufschrei hätte von dem Gespenst kommen können, das Jessica von draußen ansah und um Einlaß bat.
    Für die Nachricht jedenfalls interessierte sich niemand.
    Victoria Gray war eine Verwandte und überqualifiziert für alle Jobs, die ihr bisher angeboten worden waren. Jessies Vater hatte sie als Hausdame eingestellt, eine nicht gerade eindeutig zu definierende Position. Victoria hatte die Arbeiten übernommen, die sich finden ließen. Mit Mrs. Mulchop, Mulchop und Billy, dem Stallknecht, war der Haushalt sowieso mit viel zuviel Personal bestückt. Victoria hatte äußerst wenig zu tun, es war eigentlich nicht ganz klar, ob sie die Hausdame oder einfach ein Dauergast war.
     
    «Wie alt sie wohl ist?» hatte Onkel Robert eines Morgens gefragt, als sie noch am Eaton Square gewohnt hatten. Er öffnete gerade die Morgenpost, massenweise Briefe von Banken und Anwälten. «Victoria haben wir scheinbar mitgeerbt. Aber macht nichts, sie ist in Ordnung.» Er schaute von den Briefen auf und sagte nachdenklich: «Und ziemlich attraktiv.»
    Da Victoria Gray in Jessies Augen schon fast zum Mobiliar gehörte, hatte sie nicht damit gerechnet, daß ihr aus dieser Ecke Gefahr drohen könnte. «Sie ist fünfzig!» sagte sie und köpfte gekonnt ihr gekochtes Ei.
    Robert runzelte die Stirn. «Fünfzig? Aber nicht doch. Sie scheint mir noch keine Vierzig zu sein. Hat sie dir das etwa gesagt? Würdest du zugeben, so alt zu sein?» Nun mußte sie sich ausdenken, woher sie wußte, wie alt Victoria war. Angeregt durch die Briefe auf dem Tisch, sagte sie: «Eine Geburtstagskarte. Sie hat eine Geburtstagskarte auf dem Tisch liegenlassen. Da stand eine dicke, fette Fünfzig –» und ihre Finger malten eine Fünf und eine Null in die Luft, Riesenzahlen, denn ihr Onkel sollte endlich einsehen, daß dies ein wirklich hohes Alter war. Befriedigt stippte sie ein Stück Toast in ihr Ei.
    Onkel Robert legte den Kopf etwas schief und blickte sie an. Und dann lächelte er gedankenverloren, was Jessie immer beunruhigte. «Wenn das stimmt, dann hat sie sich hervorragend gehalten.» Jessie konzentrierte sich ganz auf das Zwetschenmus, das sie auf ihren Toast kleckste. «Stimmt. Victoria hat jede Menge kleine Töpfchen mit Farbe und Cremetiegel und solches Zeugs. Ehe sie ins Bett geht, schmiert sie sich mit Creme ein, und ein Haarnetz trägt sie auch.»
    Statt sich bei dieser gräßlichen Vorstellung zu ekeln, war er fasziniert und vergaß darüber ganz seine Post. «Ja, einen schönen Teint hat sie wirklich. Es scheint sich auszuzahlen.»
    «Das kommt von den Schlammpackungen.»
    «Schlammpackungen?»
    «Die tun sich Frauen manchmal aufs Gesicht, wenn sie alt sind. Das macht die Haut straff.» Jess legte sich die Hände auf ihre makellosen Wangen und zog die Haut zurück.
    Onkel Rob schüttelte den Kopf. «Arme Victoria. Schminke, Creme, Schlammpackungen.»
    Rasch hielt er sich die Times vors Gesicht, aber Jessie meinte, den Anflug eines Lächelns gesehen zu haben.
    Sie musterte die Marmeladenkleckse auf ihrem Toast und überlegte, ob sie die Schlammpackungen lieber hätte weglassen sollen.
     
    An diesem Abend, dem Abend des vierzehnten Februar, riß Victoria Gray Jessie aus ihren Grübeleien über Wetter, Nebel und Straßenzustand. Die Nacht hatte sich über das Moor gelegt wie schwarze Rabenfittiche. Aber Onkel Rob hatte keines von den Autos genommen – das war eben das Problem.
    «Du bist kindisch, Jessie. Jetzt geh endlich ins Bett und hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen.»
    «Ich bin aber ein Kind, oder?» Meistens leugnete sie diese Tatsache, machte nur Gebrauch davon, wenn es ihr in den Kram paßte. Sie sah zu, wie Victoria das zerknüllte Pralinenpapier einsammelte, mit dem die Schauerliche Sharon nach Henry geworfen hatte, der jetzt in einem Sessel beim Feuer wie immer vor sich hindöste. Klar, sie hatte Henry sehr gern, aber allmählich wurde es

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