Inspektor Jury lichtet den Nebel
Fensterläden klapperten im Wind. Jessie drehte sich auf die andere Seite und ließ ihre Gedanken durch das Vestibül ins Frühstückszimmer wandern, wo sie als bedauernswerte alte Frau von über zwanzig vermutlich die Honoratioren des Dorfes wie den Pastor und Major Smythe würde empfangen müssen …
«Ich will nicht erwachsen werden», hatte sie vor einem Jahr zu Onkel Robert gesagt. «Wer will schon sechzehn sein und auf ein blödes Internat wie All Hallows gehen.»
Das war an einem nebligen Septembermorgen gewesen. Sie waren mit dem Zimmer losgefahren, um am Haytor Picknick zu machen.
Jess hatte den Atem angehalten. Sicherlich würde er jetzt etwas sagen wie Jeder muß mal erwachsen werden oder Im Internat wird es dir ganz sicher gut gefallen. Aber das würde er ihr ja wohl nicht weismachen wollen. Wo es ihm im Internat selber so dreckig gegangen war.
Aber Onkel Robert sagte nur: «Warum solltest du etwas tun, wonach dir nicht ist?»
Sie blickte zum Himmel, der nun nicht mehr schlammgrau, sondern perlmuttfarben war. «Aber ich muß doch ins Internat.»
«Aber erst wenn du soweit bist, sonst machst du dich unglücklich.»
Sie fühlte sich plötzlich sehr reif und belächelte ihn wegen seiner Weltfremdheit.
«Aber man muß doch immer Sachen tun, zu denen man keine Lust hat. Lucy Manners – die mußte auch nach All Hallows, niemand hat sie gefragt, ob sie wollte oder nicht.»
«Die mit den Pickeln?»
Jessie bemühte sich um den gebührenden Ernst. «Was haben denn die Pickel damit zu tun?»
Onkel Rob lag auf einem Felsen und hatte den Arm übers Gesicht gelegt. «Alle Internatsschülerinnen haben Pickel! Entweder Pickel oder vorstehende Zähne! Da gehörst du nicht hin, dazu bist du viel zu hübsch. Es wäre einfach eine Schande, wenn du auch Pickel und vorstehende Zähne bekommen würdest.»
Jetzt sah sie das mit dem Internat schon ganz anders. «Ob im Internat oder nicht – Lucy Manners würde an jedem Ort der Welt Pickel haben», erwiderte sie sachlich.
J ESSIE LAG AUF DEM R ÜCKEN und sah, wie die Schatten der Äste im zunehmenden Frühlicht über die Decke harkten. Sie überlegte immer noch, was sie tun sollte. Dann stand sie auf.
Henry verließ sein warmes Plätzchen am Fußende des Bettes nur ungern, aber er gehorchte. Komm, Henry waren für ihn die beiden schlimmsten Worte.
An das Telefon in der Küchenwand reichte sie nicht heran, also zog sie sich den niedrigen Holzschemel heran, auf dem Mulchop so gern saß und den Duft der köchelnden Suppe genoß.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis bei der Vermittlung jemand abnahm. Jess mußte zweimal sorgsam die 100 wählen, bis sich in dem fernen, verkabelten Eispalast eine Telefonistin meldete. Jess räusperte sich. «Ich heiße Jessica Ashcroft. Ich rufe von Ashcroft aus an, fünfzehn Meilen außerhalb von Exeter. Mein Onkel ist seit fünf Tagen verschwunden. Die Polizei soll kommen.»
Die Telefonistin redete laut und langsam mit ihr, so als hätte sie ein taubes oder dummes Kind in der Leitung: «Was soll das heißen, verschwunden?»
«Er ist weg!» Jessie legte auf. Es war aussichtslos. Wie sollte sie der Telefonistin klarmachen, daß es absolut untypisch für ihn war, ohne eine Nachricht und vor allem ohne das Geschenk zu hinterlassen fortzugehen. Und gestern war Valentinstag gewesen. Onkel Rob vergaß niemals einen Feiertag. Und wie sollte sie der Telefonistin das mit den Autos erklären? Jessie lehnte sich gegen das schwarze Telefon, und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie mußte schwer schlucken, damit sie nicht herunterrollten. Henry schüttelte seine Lethargie ab, kratzte an ihrem Bein und jaulte mitfühlend. Doch schon fielen ihm die Augen wieder zu, und er nickte ein.
Sie saß niedergeschlagen auf dem Holzschemel, und auf einmal stand ihr ein Bild vor Augen: die Schauerliche Sharon auf dem Sofa, wie sie sich mit Pralinen vollstopfte und dabei Zeitung las.
Jessie griff erneut zum Hörer und wählte die Notrufnummer, die 999. In einem scharfen, sachlichen Ton wurde sie gefragt, was sie wolle. Den Krankenwagen? Das Hospital? Die Polizei?
«Hier ist Lady Jessica Allan-Ashcroft. Bitte verbinden Sie mich mit Scotland Yard», sagte sie mit tiefer Stimme und bemühte sich um eine klare Aussprache, so wie die Irre Irene es ihr beigebracht hatte. Fast wäre ihr der Hörer aus der Hand gefallen, so schwitzten ihre Hände. Ihr Herz hämmerte. «Der Axtmörder aus dem Gefängnis in Dartmoor ist hier gewesen und hat den –» sie
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