Inspektor Jury lichtet den Nebel
ihr langweilig mit ihm.
Victoria war immer noch bei der Schauerlichen Sharon: «… bin heilfroh, daß wir sie endlich los sind. Das einzige, worauf sie sich versteht, ist Schönschrift. War in ihrer Jugend vermutlich Fälscherin.»
Kein Mensch schien zu begreifen, daß etwas Gräßliches passiert war. «Hast du ihn wegfahren sehen?»
Victoria seufzte. «Nein, zum zehnten Mal, nein! Er muß in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen sein – wäre ja nicht das erste Mal. Du weißt, daß dein Onkel impulsiv ist.»
Aber diese Impulsivität war keine Erklärung dafür, daß Onkel Robert ihr weder ein Geschenk zum Valentinstag noch eine Nachricht hinterlassen hatte.
«Jessie, Schätzchen.» Jetzt stand Victoria direkt hinter ihr, und das Spiegelbild in der Fensterscheibe verdoppelte sich. «Geh ins Bett und hör auf, dir Sorgen zu machen. Darf denn dein Onkel nicht ein einziges Mal vergessen –»
«Nein! Komm, Henry!» befahl Jessie dem Hund und rannte aus dem Zimmer. Der müde und betrübt dreinschauende Henry mußte gehorchen. Er war von seinem Frauchen eh keinen anderen Ton gewöhnt.
Aber sie ging nicht sofort ins Bett. Zunächst zog sie sich den gelben Regenmantel an, der neben dem Overall hing, und öffnete die schwere Tür, die zum Pferdestall führte. Neun Autos und zwei Pferde hatten hier Platz. Während Victoria sehr gern ritt, wollte Jessica von Pferden nichts wissen. Sie hatte ihrem Onkel gesagt, es gäbe so viele Ponys auf dem Moor, daß ihr schon beim Anblick eines Pferdes schlecht würde. Und nicht ums Verrecken würde sie in eine blöde Reitschule gehen, wo sie doch bloß im Kreis in der Manege rumreiten müßte.
«Ich will ein Auto haben», hatte sie gesagt, als Robert sich einen Wagen nach dem anderen kaufte.
«Ein Auto? Jess, du bist sieben.»
Sie seufzte. Wie oft sie das zu hören bekam. «In einem Monat bin ich acht. Und damit du’s weißt, ich will einen Mini Cooper haben. Den von Austin Rover.» Sie platzte schier vor Stolz, so gut Bescheid zu wissen.
«Die Polizei hält nicht besonders viel von achtjährigen Autofahrerinnen.»
Da stand der Mini Cooper. Henry tapste hinter ihr her und blieb stehen, wenn sie stehenblieb. Er gähnte, denn abendliche Inspektionsrunden im Dunkeln und bei Regen waren nicht seine Sache. Der Regen blies Jessica die Regenmantelkapuze herunter, während sie durch den Stall ging, jedes Auto mit der Taschenlampe anstrahlte und die Motorhaube berührte – ja, fast streichelte sie die Autos, als handelte es sich um ihre Lieblingspferde.
12
J ESSIE LAG SCHON WACH , bevor der Morgen graute, und Henry ruhte wie ein schweres Plumeau zu ihren Füßen. Sie starrte auf das Schattenspiel, das durch die vom Wind gepeitschten Äste auf der Zimmerdecke entstand. Dann drehte sie sich auf die Seite. Statt Schäfchen zu zählen (was gräßlich langweilig war) begann sie, die Zimmer des Herrenhauses durchzuzählen. Sie durchwanderte in Gedanken den langen, dunklen Flur hinter ihrer Schlafzimmertür und betrat Onkel Robs Zimmer, zwei Türen weiter, dessen Einrichtung aus Ledermöbeln, vielen Stühlen und Bücherregalen und einer hohen Mahagonikommode bestand, auf der Fotos von ihren Eltern; aufgestellt waren.
Beim Gedanken an sein Zimmer konnte sie erst recht nicht einschlafen. Sie stellte sich das Zimmer der Schauerlichen Sharon vor, das gegenüber von dem ihren lag. Sharon lebte ganz im Laura-Ashley-Stil, was überhaupt nicht zu ihr paßte: Blümchentapete und Blütenranken auf den Vorhängen. Jessie fühlte sich hier immer wie in einem Dornendickicht oder als würden sie stechende Brennesseln einschließen. Neben Sharon wohnte Victoria Gray, deren Zimmer mit seinen seidig schimmernden Samtvorhängen, die sich in schweren Falten auf den Fußboden schoppten, etwas Geheimnisvolles hatte und deshalb wie für sie geschaffen schien.
Sie konnte einfach nicht einschlafen. Sie zählte die Räume im Dienstbotentrakt, wo Mr. und Mrs. Mulchop und Billy ihre Zimmer hatten. Sechs weitere Zimmer in diesem Flügel standen leer.
Wie ein potentieller Käufer bei einer Besichtigung durchschritt sie in Gedanken den dunklen Flur vor ihrem Zimmer, stieg die geschwungene Treppe hinab. Die Eingangshalle mit ihren spanischen Fliesen und dem runden Tisch mit einem duftenden Rosen- oder Jasminstrauß darauf war an sonnigen Tagen lichtdurchflutet, sah jetzt aber aus wie ein dunkler Brunnenschacht.
Sie schlug die Augen auf und merkte, daß es hinter den Fensterscheiben heller geworden war. Die
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