Inspektor Jury lichtet den Nebel
nicht.»
«Motiv? Wer spricht hier von Motiv? Verrückte haben keins, Mr. Jury.» Ihr schmales Lächeln war nachsichtig, schließlich konnte dieser Grünschnabel von einem Polizisten nicht alles wissen, oder?
Und sie hatte recht. «Psychopathen haben auch Motive, nur daß diese irrational und nicht direkt nachvollziehbar sind. Übertragungen.»
«Was heißt das, Übertragung?» Sie hegte psychologischem Fachchinesisch gegenüber ein gesundes Mißtrauen.
«Das heißt, der Mörder tötet nicht die Person, die er eigentlich meint.»
Strudelkauend dachte sie darüber nach. «Was für eine furchtbare Zeitverschwendung.» Sie blickte ihn betrübt an. «Die Zeitungen sind voll von dieser Mordgeschichte, Mr. Jury.»
Jury wußte, was in den Zeitungen stand. Und er wußte auch, daß er unwissentlich Mrs. Wassermans eigene Phobie beschrieben hatte. Wie alt war sie während des Zweiten Weltkriegs gewesen? Fünfzehn, sechzehn vielleicht. Was sie an Entsetzlichem durchgemacht hatte, war verdrängt worden, ins Unterbewußtsein gesunken, so daß sozusagen nur noch die Spitze des Eisbergs hervorschaute, und nur mit dieser Spitze konnte sie umgehen. Der Fremde, der sie verfolgte, dessen Schritt sie überall heraushörte, dessen Beschreibung Jury immer wieder in seinem Notizbuch notiert hatte, obwohl er wußte, daß er nicht existierte. Und die Schlösser, die Ketten und Riegel, die Jury ihr besorgt hatte. Mrs. Wasserman hätte ein Buch über Agoraphobie schreiben können.
Jury musterte ihre Fenster, die Gitter und die Fensterläden. Er musterte die verschlossene und verriegelte Tür. «Sie verriegeln die Tür –» Das war ihm gegen seinen Willen herausgerutscht.
«Wie bitte? Aber natürlich verriegele ich die Tür.» Ihr mächtiger Busen bebte vor Lachen. «Das von Ihnen! Wo Sie mir doch die Riegel besorgt haben.» Dann fügte sie besorgt hinzu: «Sie brauchen wirklich Schlaf, Mr. Jury. Sie haben niemals eine Sekunde Ruhe. Manchmal kommen Sie erst um zwei, drei Uhr morgens nach Haus.»
Jury hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Er fixierte immer noch die einbruchsichere Tür. «Was genau soll sie abhalten?»
Sie blickte ihn ratlos, ja argwöhnisch an, so wie man einen lieben Freund anschauen würde, der von einer Sekunde zur nächsten den Verstand verloren hat. «Na ihn ! Das wissen Sie doch.» Und lächelnd schob sie sich ein weiteres Stück Strudel in den Mund.
22
F ÜNF M EILEN HINTER D ORCHESTER , in Winterbourne Abbas, traf es ihn wie der Blitz – etwas, das ihm zuvor nicht wichtig erschienen war. Jury hielt bei einer Tankstelle, fragte nach dem Telefon und wurde ins Restaurant «Little Chef» gleich nebenan verwiesen.
Das Restaurant war von geradezu antiseptischer Sauberkeit, bis hin zu den gestärkten Uniformen der Kellnerinnen. Jury bestellte einen Kaffee und sagte, er sei gleich wieder da. Er ließ sich mit dem Polizeipräsidium von Devon und Cornwall verbinden und erfuhr, daß der Divisional Commander in Wynchcoombe war.
Constable Coogan teilte ihm im mobilen Büro etwas schnippisch mit, daß Macalvie sich Sergeant Wiggins geschnappt habe und zum «Verirrten Wandersmann» gefahren sei, um «Nachforschungen» anzustellen. Jury lächelte. Und Betty gab ihm die Nummer.
Als im «Verirrten Wandersmann» endlich jemand abnahm, war im Hintergrund Elvis Presleys «Hound Dog» zu hören.
«Kenn ich nich, Kumpel. Mac – wie?» fragte der Mann, der ans Telefon gegangen war, vermutlich irgendein Stammgast.
Jury konnte fast hören, wie ihm das Telefon aus der Hand gerissen wurde, und nach einem kurzen Wortwechsel hatte er endlich den Richtigen am Apparat. Macalvie brüllte Freddie an, sie solle die verdammte Musik leiser stellen, und war dann endlich ganz Ohr.
«Was treiben Sie denn da, Macalvie?»
«Ach, Sie sind das.» Wie gewohnt konnte er sich nicht für Scotland Yard erwärmen. «Ich unterhalte mich mit Ihrem Freund. Dem, der sich als gottverdammter Graf ausgibt. Scheint aber trotzdem in Ordnung zu sein.»
Macalvie mochte komischerweise immer ausgerechnet die Leute, von denen Jury angenommen hatte, daß er sie verabscheuen würde. Jury unterbrach ihn und erzählte, was er bei Mr. Mack erfahren hatte.
«Thorne? Der gehörte zur Ashcroft-Sippschaft? Seit wann? Ich meine, wie lange schon?»
«Keine Ahnung. Lassen Sie ihn von einem Ihrer Männer anrufen. Ist Wiggins da?»
«Aber klar doch.» Macalvie schien ohne Wiggins keinen Schritt mehr zu tun. «Meine Güte, das mit Thorne hätte ich wissen
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