Inspektor Jury lichtet den Nebel
lange vor Barbara.» Es hörte sich an, als hätte sie mehr Anspruch auf England als Barbara. «Aber ich habe sie kaum zu Gesicht bekommen, bis Barbara dann so krank wurde. Da war ich plötzlich gefragt, und hinterher konnte sich niemand mehr an das, was ich für sie getan habe, erinnern.»
«Aber Sie werden ja mal einen hübschen Batzen erben. Falls Jessica Ashcroft etwas zustoßen sollte.»
«Was soll der schon zustoßen?» Sie reagierte nicht auf Jurys Anspielung. «Das ist mir vielleicht ein Testament – alle müssen warten, bis jemand stirbt. Und an allem ist Riley schuld, so ist das! Robert Ashcroft, dieser Snob, will seinetwegen nichts mit uns zu tun haben. Aber die Ashcrofts waren schon immer ganz furchtbare Snobs.»
Jury täuschte Mitgefühl vor und schenkte ihr nach. «Scheint mir ein bißchen unfair.»
Sie sagte verächtlich: «Unfair? Das kann man wohl sagen. Und das, obwohl wir uns angeboten haben, das Mädchen aufzunehmen, ihm Vater und Mutter zu sein.»
(So wie du Simon eine Mutter warst, dachte Jury.)
«Aber ihm wird sie zugesprochen, mit allem, was so dranhängt. Dabei wußte er vorher kaum, wer sie war.» Selten hatte Jury ein gehässigeres Lächeln gesehen. «Aber wer ihre Mutter war, die Barbara, das wußte er nur zu gut!»
Die Andeutung war klar. Aber Jury wollte ihr nicht die Freude machen, sich auf ihre Phantastereien einzulassen.
Plötzlich erschien Riley. Er kam ins Wohnzimmer, als träte er aus dem dunklen Teil einer Bühne ins Rampenlicht. Er blinzelte und fragte erstaunt: «Superintendent?»
Jury stand auf und gab ihm die Hand. «Guten Tag, Mr. Riley. Ich habe Ihrer Frau gerade noch ein paar Fragen zu Simons Tod gestellt. Na, dann will ich mal wieder.»
Riley brachte Jury zum Treppenabsatz, wobei er ihm zuflüsterte: «Wenn sie ein Gläschen zuviel trinkt, wird sie immer ein bißchen weinerlich. Verträgt nicht viel, die gute Beth. Und, was Neues, was Simon betrifft?»
«Nichts, leider. Ich bin dabei, mich über die Familienbeziehungen zu informieren. Ich wußte zum Beispiel nicht, daß Ihre Frau mit den Ashcrofts verwandt ist.»
So erschüttert vom Tod seines Sohnes war Riley nun auch wieder nicht, daß er nicht auflachte. «Da dürften Sie in ganz Dorchester der einzige sein, der das nicht weiß. Die hat nach der Beerdigung vielleicht Krach geschlagen.» Er seufzte. «Aber was soll’s. Warum sich streiten? Und, wie laufen die Ermittlungen sonst?»
Jury überlegte sich die Antwort gut. «Ich glaube, gut, Mr. Riley.»
«Lieber Gott, hoffentlich. Als ich das von den beiden anderen gelesen habe – ich trau mich kaum, es laut zu sagen, Mr. Jury, aber ich bin erleichtert, daß Simon nicht das einzige Opfer ist.» Er warf Jury einen verstohlenen Blick zu, als wäre dieser ein Gottesbote, der ihn für diese Lästerung zu ewigem Fegefeuer verdammen könnte. «Ich kann mir einfach nicht helfen.»
«Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen», sagte Jury, ging die Treppe hinunter und verließ Rileys Fleisch- und Wildspezialitäten.
23
M IT ZUCKENDEM S CHWANZ beobachtete die schwarze Katze, die auf der Steinbalustrade saß, zwei Möwen, die ein weggeworfenes Sandwich zerpickten. Als Jury – ganz der tölpelhafte Fremde, der dem Naturschönheiten ablichtenden Touristen ins Bild läuft, auftauchte, starrte sie ihn an, als ob ihr jedes Opfer recht sei. Dann sprang sie herab, schlich zur Steintreppe und starrte, aus der Fassung geraten, die Tür an. Drinnen gab es irgendwo etwas zu fressen.
Jury staunte, die Vorhänge waren nicht zugezogen. Und Molly mußte ihn durchs Fenster beobachtet haben, denn die Tür ging auf, noch ehe er anklopfen konnte. Die Katze marschierte ins Haus.
Molly musterte ihn von Kopf bis Fuß und lächelte. «Er geht direkt in die Küche und starrt mich an, bis ich ihm etwas zu fressen gebe. Kommen Sie rein.»
Die Atmosphäre war ihm unheimlich, und er zögerte, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Dieses Zögern dauerte nur ein, zwei Sekunden, aber sie bemerkte es. Ihr Lächeln war wie weggewischt, und sie blickte zum Fenster, als wollte sie die Gardinen wieder zuziehen, so wie sie blitzschnell einen Vorhang über ihr Lächeln gezogen hatte.
Er hatte sie enttäuscht, und gerade das hatte er nicht gewollt. Aber es war bei Molly Singer wohl unvermeidlich.
Sie nahm ihm den Mantel ab und ging die Katze füttern. Aus der Küche fragte sie ihn, ob er Kaffee wolle. Sie versuchte charmant zu sein, fügte neckisch hinzu, er solle das Angebot lieber annehmen, so ein
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