Inspektor Jury schläft außer Haus
Beleidigung fürs Auge.»
«Ihr Neffe ist – oder vielmehr war – Lord Ardry?»
«Was halten Sie davon, Inspektor, seinen Titel wie ein Paar alte Schuhe abzulegen? Ich meine, das ist nicht gerade üblich hier. Aber Melrose fällt ja sowieso aus dem Rahmen.»
«Wissen Sie mehr über Small?»
«Nein, eigentlich nicht. Als ich ihn fragte, wohin er unterwegs sei, lachte er nur und sagte: ‹Ich bin am Ziel meiner Wünsche.› Er sah so aus wie die Typen, die man in den Wettbüros herumhängen sieht.»
«Interessant.» Jury stellte seine Tasse ab. «Ich danke Ihnen, Mr. Trueblood, daß Sie mir soviel Zeit gewidmet haben.» Jury stand auf. «Sie kennen nicht zufällig Ruby Judd, die Hausangestellte des Pfarrers?»
Trueblood rutschte verlegen auf seinem Sitz hin und her und stand dann auch auf. «Doch, natürlich kenne ich sie. Jeder kennt sie. Sie ist Long Piddletons Version von einem halbseidenen Mädchen. Wenn man von Sheila absieht. Aber keine üble Nachrede!» Trueblood lächelte. «Was ist mit Ruby?»
«Nichts weiter, nur daß sie seit einer Woche verschwunden ist, wie ich gehört habe.»
«Das wundert mich nicht. Von Ruby heißt es, sie habe überall ihre Liebhaber.»
«Ja, vielleicht. Vielen Dank jedenfalls.» Jury blickte sich noch einmal in dem Laden um. «Sie haben hübsche Sachen hier. Leider verstehe ich nicht viel davon.»
«Oh, ich bezweifle, daß es irgend etwas gibt, wovon Sie nichts verstehen, Inspektor.»
Das Kompliment klang aufrichtig, wenn auch etwas gesucht. Jury fühlte sich Trueblood einen Augenblick lang seltsam nahe. Er hatte etwas, was auf Männer wie auf Frauen wirkte. Sicher, er war homosexuell, aber gehörte er wirklich zu der Sorte mit den Seidenschals, den getönten Gläsern und dem affektierten Benehmen?
Jury blieb an der Tür stehen und sagte: «Ich frage mich, ob er das wörtlich gemeint hat.»
Trueblood blickte ihn verständnislos an. «Wer meinte was?»
«Small. ‹Ich bin am Ziel meiner Wünsche.› Er muß mit einer bestimmten Absicht nach Long Piddleton gekommen sein.»
Trueblood lachte. «Wer käme hier schon mit einer Absicht her, vor allem mitten im Winter? Und dazu noch ein vollkommen Fremder ?»
«Vielleicht war er kein vollkommen Fremder. Auf Wiedersehen, Mr. Trueblood.»
Als Jury und Wiggins von dem betagten Kellner in die Bar der Pandorabüchse geführt wurden, unterhielt sich Simon Matchett gerade sehr angeregt mit einer dunkelhaarigen, gutgekleideten Frau, die zu dem Typ von Frauen gehörte, deren Alter sich unmöglich schätzen läßt. Sie konnte fünfunddreißig oder auch vierundfünfzig sein.
Der Besitzer brauchte sich nur vorzustellen, und schon war Jury klar, warum er so erfolgreich war bei Frauen. Hätte Jury nicht in Pratts Bericht gelesen, daß er bereits 43 Jahre alt war, hätte er ihn bestimmt zehn Jahre jünger geschätzt. Hellbraunes, dicht gelocktes Haar, ein ziemlich kantiges Gesicht, ein schmaler, aber sympathischer Mund. Der ganze Mann machte einen sehr liebenswürdigen Eindruck, auch wenn diese Liebenswürdigkeit etwas Einstudiertes an sich hatte. Sein Gesicht glich einer aristokratischen, fein ziselierten Maske; die Augen waren leuchtend blau, kleine Stückchen eines gefrorenen Himmels. Es lag wohl an seiner Fähigkeit, ihren Ausdruck so intensivieren zu können, daß jede Frau das Gefühl hatte, das alleinige Objekt seiner Begierde und vielleicht auch seiner Liebe und Zuneigung zu sein. Die Farbe von Matchetts Augen außerdem noch durch das am Hals offene blaue Wollhemd betont, dessen lange Ärmel über die Handgelenke hochgerollt waren.
Diese Miss Rivington war gewiß nicht unscheinbar und verhuscht; ihr elegantes, blaues Wollkleid schien passend zu seiner Augenfarbe ausgesucht zu sein; vielleicht sollte es aber auch nur unterstreichen, wie gut sie zusammenpaßten. Eine Kaskade russischer Bernsteinperlen endete kurz vor ihrer Taille. Über dem Barhocker lag eine Nerzstola.
Matchett stellte sie als Isabel Rivington vor; dann zog er zwei eichene Barhocker herbei und sagte: «Darf ich Ihnen und dem Wachtmeister etwas anbieten?»
Wiggins, der wie ein Laternenpfahl dastand, fragte, ob er etwas Heißes haben könne, eine Tasse Tee vielleicht. Er spüre eine Erkältung nahen. Matchett entschuldigte sich und ging in die Küche.
«Ich würde gern einmal bei Ihnen vorbeikommen», sagte Jury zu Isabel Rivington. «Ich hätte da ein paar Fragen.»
«Ich kann mir nicht vorstellen, was Sie mich noch fragen könnten. Ich hab alles, was ich
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