Inspektor Jury spielt Domino
es gibt nichts in meiner Vergangenheit, für das es sich lohnt, ein paar Scheine hinzublättern.»
«Ein über jeden Verdacht erhabener Bürger? Angenommen, jemand sagte Ihnen auf den Kopf zu: ‹Ich weiß, was Sie getan haben›, würden Sie dann nicht rennen, was das Zeug hält?»
Er behielt sein frostiges Lächeln bei, verzichtete aber auf eine Antwort.
«Du lieber Himmel», bohrte Melrose weiter, «selbst ein Unschuldslamm wie ich, das sich einfach nur ziellos treiben läßt, kann sich an ein oder zwei Dinge erinnern, über die ich keinen reden hören möchte.» Melrose lächelte einnehmend.
Julian stellte sein Glas auf den Tisch und sagte: «Dann schlage ich vor, daß Sie selbst auch nicht darüber reden.» Damit entschuldigte er sich und ließ Melrose einfach stehen.
Melrose seufzte und starrte zur Decke hoch. Er befürchtete, Sir Titus würde nicht gerade begeistert sein, wenn er entdeckte, daß Melrose – ein Außenstehender – Julian zum Reden bringen wollte. Julian war in Melroses Augen ein Hagestolz ohne jeglichen Charme; einer, vor dem Hunde und kleine Kinder davonliefen. Aber nicht die Frauen, die bestimmt nicht. Julian Crael war zwar nicht verheiratet, aber Melrose hätte wetten können, daß es von York bis Edinburgh keine Frau im heiratsfähigen Alter gab, die sich nicht die Hacken nach ihm ablaufen würde. Sein Aussehen, sein Geld, sein Name!
Melrose dachte (in aller Bescheidenheit, ein dünnes Stimmchen schien es ihm zuzuflüstern), ich kenne das schließlich. Obwohl er nicht so blendend aussah. Beim Aufundabgehen konnte er es sich nicht verkneifen, gelegentlich einen kurzen Blick in den Spiegel zu werfen, dessen Goldrahmen durcheinanderpurzelnde Putten zierten. Sein Spiegelbild erschien ihm durchaus passabel, auch wenn er sich nicht mit Julian messen konnte. Aber wer konnte das schon! Er dachte an das Porträt über dem Kamin im Salon. Julian sah aus wie seine Mutter. Er trat an einen mit Zeitschriften, Füllfederhaltern und Büchern übersäten Lesetisch und schaute sich die Buchrücken an: Whythe-Melville: Das Vergnügen der Jagd , Jorrocks – alles nur Bücher über die Jagd. Dann goß er sich noch etwas Portwein nach, stöpselte die Waterford-Karaffe zu, ging zu seinem Sessel zurück und starrte wieder zur Decke.
Julian Craels Motiv lag sozusagen auf der Hand. Falls diese Temple wirklich das Mündel des Colonel gewesen war, hätte sie nicht nur Anspruch auf sein Geld gehabt. Sie hätte auch die Zuneigung des alten Mannes für sich beanspruchen können. Also ein Dorn im Auge des jüngeren Crael …
Leider hatte Julian Crael auch ein hieb- und stichfestes Alibi.
Das war der Haken an der Sache. Zum Zeitpunkt des Mordes war Julian auf seinem Zimmer gewesen. Er war von einem Spaziergang zurückgekommen und sofort auf sein Zimmer gegangen, ohne sich um die Partygäste zu kümmern. Und dort war er auch geblieben – was er beweisen konnte.
Melrose Plant schloß die Augen und massierte sich die Kopfhaut, wohl damit sein Gehirn durchblutet würde und ihm die Lösung des Rätsels lieferte. Als er damit aufhörte, stand sein heiles Haar in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Er wollte nicht verzagen vor diesem Carter-Dickson-Rätsel mit verschlossenen Türen.
Wo steckte bloß Jury!
4
Die graugestreifte Katze streckte sich auf dem Fenstersims, fixierte Jury, gähnte ihn durch das Glas hindurch an und rollte sich wieder zu einer Kugel zusammen. Zwischen der Scheibe und dem Fensterrahmen steckte ein kleines Schild: GEÖFFNET. Ein zweites hing an der Tür: TRETEN SIE EIN. Was Jury und Wiggins auch taten.
Ein Glöckchen bimmelte, aus den oberen Regionen ließ sich ein kräftiger Bariton vernehmen, der sie bat, sich einen Augenblick zu gedulden. Kurz darauf kam ein Mann, dem die Baritonstimme gehörte, die Stufen heruntergepoltert. Er trug Jeans, einen blauen Wollpullover, eine Schirmmütze (der glänzende Schild saß im Nacken), eine mit Magentarot verschmierte Lederschürze und eine Zigarre hinter dem Ohr.
«Mr. Rees? Mein Name ist Jury.»
«Chefinspektor. Von der Kriminalpolizei. Scotland Yard. Und Sergeant Wiggins. Ich bin auf dem laufenden.»
Jury ließ seinen Ausweis wieder in die Tasche gleiten. «Hat sich ja schnell rumgesprochen.»
Rees zog den Zigarrenstumpen hinter seinem Ohr hervor und zündete ihn an. «Sonst gibt’s ja nichts, was sich rumsprechen könnte, Inspektor. Sie wollen mich wegen diesem Mord vernehmen. Reicht es, wenn ich Ihnen sage, daß ich’s nicht
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