Instinkt
Schnellwahltaste ihres Handys, um einen Krankenwagen zu rufen.
Doch als sie Gore zu Gesicht bekam, wusste sie, dass es zu spät war. Er lag vor seinem Schreibtisch rücklings auf dem Boden und hatte die Augen geschlossen. Aus kurzer Distanz durch Schrot verursachte Verletzungen sind meist sehr viel gefährlicher als normale Schusswunden, da die Schrotkugeln noch nicht gestreut haben und den Körper mit der vollen Wucht eines Kegels treffen. Gore bildete keine Ausnahme. In seiner Brust klaffte ein gewaltiges, fransiges Loch, in dem seine inneren Organe zu sehen waren. Sogar das Herz konnte Tina erkennen, und es schien nicht mehr zu schlagen.
»Lieber Gott«, flüsterte sie und fühlte verzweifelt nach seinem Puls. Sie glaubte, noch ein ganz leichtes Pochen zu spüren, doch als sie anfangen wollte zu zählen, war es weg. »Komm schon, komm schon!«, brüllte sie ihn an, bekam aber keine Reaktion. Da war nichts mehr. Gore war tot und damit auch die letzte Chance, Wise endlich vor Gericht zu bringen.
Sie erhob sich, und obwohl sie wusste, dass nichts mehr zu machen war, sagte sie der Notrufzentrale, sie sollten sich beeilen. Dann ging sie mit zitternden Knien zurück in den Flur.
Grier hatte sich inzwischen neben Mrs. Gore gehockt. Als Tina zu ihm trat, stand er auf und schüttelte den Kopf. Seine Hände und sein blütenweißes Hemd waren blutbefleckt. »Sie ist tot«, sagte er, vor Schock immer noch blass im Gesicht.
Tina stützte sich an der Wand ab. »Gore auch und damit unsere Chancen, Wise zu erwischen.«
Schwindel übermannte sie, sie stolperte an Grier und der verstümmelten Leiche von Jane Gore vorbei zur Haustür, riss sie auf und sog verzweifelt die frische Morgenluft ein. Die Straße lag wie ausgestorben da. Nicht einmal ein Vorhang bewegte sich. Es war, als hätte niemand etwas von dem Schrecken im Haus der Gores mitbekommen.
Langsam ließ der Schwindel nach, aber Tina blieb noch einen Moment im Sonnenlicht stehen und atmete tief durch. Ein Milchwagen fuhr vorüber, und der Milchmann warf ihr einen befremdeten Blick zu. Plötzlich wünschte sie sich, sie hätte auch so einen Job, bei dem man nicht ständig mit dem Abschaum der Gesellschaft konfrontiert wurde, der einem aus klaffenden Wunden entgegenquoll, oder mit dem Bösen, das sich von ganz oben im Establishment hinunter in die Gosse verströmte.
Ihr Handy klingelte. Sie checkte die Nummer. Mike Bolt. Eine Woge der Erleichterung überkam sie, denn wenn sie jetzt mit irgendeinem Menschen auf der Welt sprechen mochte, dann mit Mike Bolt.
»Bist du in Ordnung, Tina?«, fragte er, als sie sich meldete.
»Nein«, gestand sie mit brechender Stimme und erzählte ihm, was passiert war.
»Und er ist definitiv tot?«
»Beide. Ein klassisches Mord-Selbstmord-Szenario.«
Er pfiff durch die Zähne und schwieg ein paar Augenblicke. »Na, dann dürfte jetzt die Scheiße wohl am Dampfen sein«, sagte er schließlich. »Sieh zu, dass jemand von der Polizeigewerkschaft dabei ist, wenn sie dich vernehmen, denn das gibt einen Riesenskandal, und sie werden dringend einen Sündenbock brauchen.«
»Ich habe nur meinen Job getan, Mike«, protestierte Tina und wurde sich bewusst, wie defensiv sie klang. Dabei war sie wütend, weil sie kurz vor der Aufklärung eines Kapitalverbrechens gestanden hatte und nun für den Tod des Mörders verantwortlich gemacht werden würde.
»Ich weiß. Du weißt es. Nur wird das vielleicht nicht reichen. Du gerätst einfach zu häufig in unüberschaubare Fälle, und dadurch wirst du anfällig für Vorwürfe, du hättest den Zwischenfall provoziert. Eventuell sogar bewusst provoziert.«
»Ich habe die Vernehmung von Gore aufgezeichnet, sein Geständnis habe ich auf Band, allerdings habe ich ausgeschaltet, bevor die Schüsse fielen. Glaubst du, das genügt, um Wise anzuklagen?«
Bolt seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber an deiner Stelle würde ich das Aufnahmegerät irgendwo gut verstecken, denn in einem Fall wie diesem, in den ein hochrangiges Regierungsmitglied verwickelt ist, wird man alles Mögliche vertuschen wollen. Niemand in den Korridoren der Macht will einen Skandal dieser Größe an die Öffentlichkeit dringen lassen.«
Tina wusste, dass er Recht hatte und dass es schwer für sie werden würde, sich aus ihrer Lage herauszumanövrieren, auch wenn sie eine Aufzeichnung von Gores Geständnis und Grier als Zeugen hatte. »Da stecken noch andere mit drin. Alpha, der Mann fürs Grobe. Wenn wir den finden …«
»Na gut, dabei
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