Instinkt
Etwa einen halben Kilometer weiter bog er nach rechts und dann sofort wieder nach links ab, und sein Atem ging allmählich in ein krächzendes Keuchen über.
»Okay, wir sind gleich da. Rutsch runter.«
Aus meiner neuen unbequemen Position beobachtete ich, wie wir eine Reihe rußverschmierter Industrieanlagen passierten.
»Da ist es«, flüsterte er und hielt den Blick starr auf den halbfertigen Rohbau eines vielleicht vier- oder fünfgeschossigen Gebäudes gerichtet, das sich hinter einem Maschendrahtzaun erhob.
Er fuhr noch zwei Minuten weiter, ehe er erneut nach rechts abbog und in einer Seitenstraße parkte. Er holte ein paarmal tief Luft und versuchte, sich für die schlimmsten Augenblicke seines Lebens hochzuputschen. Mir war klar, dass er sich pausenlos fragte, ob Billy noch am Leben war.
So oder so würde er bald die Antwort herausfinden.
»Ich brauche den Revolver, Sean.«
»Ach komm, wann hast du das letzte Mal eine Waffe abgefeuert, Dougie? Es ist fünfundzwanzig Jahre her, seit du die Armee verlassen hast. Ich bin an der Waffe ausgebildet und ständig in Übung. Besser ich behalte sie.«
»Nein. Hier geht es um meinen Sohn. Ich brauche die Waffe.« Er beugte sich vor und sah mir hart in die Augen. »Du schuldest es mir, Sean. Seit Ewigkeiten.«
Und er hatte Recht. Ich schuldete es ihm. Ich hätte den Revolver zwar lieber behalten, weil ich im Gegensatz zu ihm damit umzugehen wusste, aber er ließ mir keine Wahl. Deshalb legte ich den Revolver in seine ausgestreckte Hand und sah zu, wie er ihn im Bund seiner Jeans verschwinden ließ.
»Sei vorsichtig«, sagte ich noch und fragte mich, ob ich ihn geradewegs in eine Falle laufen ließ. Doch selbst wenn, so konnte ich rein gar nichts dagegen tun.
»Danke, das werde ich.« Er atmete noch einmal tief durch und strich sich mit der Hand durchs Haar. »Ich weiß es zu schätzen, dass du mir helfen willst, Sean, aber ich will dich nicht hinter mir herschleichen sehen. Eigentlich will ich dich überhaupt nicht sehen. Zumindest nicht, bevor alles vorbei ist.« Er öffnete die Fahrertür. »Zähl bis hundert, bevor du mir nachgehst.« Dann verschwand er.
Ich zählte zwar nicht ganz bis hundert, ließ ihm aber eine gute Minute Vorsprung, ehe ich ausstieg und in die Richtung ging, aus der wir gekommen waren. Ringsum war es still, es herrschte so gut wie kein Verkehr, obwohl die Sonne längst am azurblauen Himmel stand. Zumindest würde es ein herrlicher Tag werden.
Für einige wenigstens.
Am Regent’s Wharf führte die Straße über den Kanal, auf dem jede Menge Lastkähne lagen. Ich erinnerte mich, vor Jahren, kurz nachdem ich zur Polizei gegangen war, hier mit einer Freundin einen wunderbaren Nachmittag verbracht zu haben. Sie hatte Davina geheißen, und ein paar Monate lang hielt ich es für eine ziemlich ernste Sache. Dann war es plötzlich aus, und sie war verschwunden, wie alles andere auch in meinem Leben. Ich straffte die Schultern. Wenn ich den heutigen Tag überlebte, würde ich mich ändern, eine Freundin finden und zur Ruhe kommen. Vielleicht sogar eine Familie gründen. Ich war es leid, allein zu leben.
Links von mir hob sich das Gebäude gegen die Skyline ab, ein Betonskelett, das die ganze Baustelle ringsum erdrückte. Ein am Zaun befestigtes Schild verkündete, hier könne man nächstes Jahr geräumige Luxusapartments mit Blick aufs Wasser beziehen, wobei ich mir dachte, dass sie sich bis dahin noch ganz schön ins Zeug legen mussten.
Ich zwang mich, langsam zu gehen. Dougie war zwar verschwunden, aber ich wollte sichergehen, dass, falls jemand vom Gebäude aus die Straße beobachtete, er sich zurückgezogen hatte, wenn ich ankam.
Das Haupttor war nur angelehnt, das schwere Vorhängeschloss mit einem Bolzenschneider geknackt worden. Ich schob mich vorsichtig hinein und schlich über den ausgefahrenen Weg zum Vordereingang des Gebäudes, wobei ich mich in der Nähe der Baumaschinen hielt, um notfalls schnell Deckung zu finden. Dabei scannte ich die Fenster in den oberen Stockwerken, konnte aber keine Bewegung erkennen.
Als ich die Tür erreichte, hielt ich einen Moment inne, ehe ich hineinschlüpfte. Wenn mir jemand begegnete, wäre ich ohne Waffe völlig hilflos. Langsam bewegte ich mich durch das Zwielicht, bis ich an eine Betontreppe kam, die nach oben führte. Ich schaute hoch und lauschte. Dougie war vor höchstens zwei Minuten hineingegangen, doch ich konnte nichts hören, was nach einem freudigen Wiedersehen zwischen Vater und
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