Intimer Betrug
Verzweiflung so groß, dass es ihr selbst dann nichts ausgemacht hätte, wenn alle Welt sie dabei gesehen hätte, wie sie das Bordell der berühmten Madame Genevieve betrat.
Am Ende des Korridors blieb der Butler stehen und klopfte leise an eine Tür. Grace hörte Hannahs vertraute Stimme, die sie hereinbat, und trat zögernd über die Schwelle.
»Grace?«
Grace blickte zur der Gestalt am anderen Ende des Raums und stutzte. Sie wusste, dass es ihre Freundin war, die vor ihr stand, doch es war nicht die Hannah, die Grace kannte. Es war nicht die Hannah, die stets ein schlichtes, wenn auch modisches Tageskleid trug, um bei ihren Treffen kein Aufsehen zu erregen. Die Hannah, die einfach und doch stilvoll frisiert war, sodass ihr niemand einen zweiten Blick schenkte.
Die Frau, die vor ihr stand, wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit jener anderen Frau auf – ihrer Freundin aus Kinder-tagen. Mit dem Mädchen, das alle Geheimnisse, Ängste und Träume mit ihr geteilt hatte.
Die Frau, die heute Nacht vor ihr stand, war atemberaubender als alle Frauen, die Grace je gesehen hatte. Kein Wunder, dass die Gerüchte, die sich um die berühmte Madame Genevieve rankten, legendär waren. Sie entsprachen allesamt der Wahrheit.
Madame Genevieve trug eine tief ausgeschnittene Robe aus scharlachrotem Satin, die genug von ihren vollen Brüsten zeigte, um skandalös zu sein, jedoch ohne dabei die Grenze zur Unzüchtigkeit zu überschreiten. Ihre Haare waren geschickt hochgesteckt, sodass ihr die goldene Lockenpracht, durch die scharlachrote Bänder gewunden waren, kaskadenartig über die Schultern fiel. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von schimmernden Strähnchen umrahmt und in die Frisur waren viele winzige Rubine eingearbeitet – ob echt oder nicht, konnte Grace nicht sagen –, die im Kerzenlicht funkelten wie bunte Sterne.
Doch es war Madame Genevieves Gesicht, das Grace besonders fesselte. Hannah war schon immer eine Schönheit gewesen. Mit ihrer hellen, klaren Haut und dem Mitternachtsblau ihrer Augen fiel sie auch unter den schönsten Frauen auf, die die feine Gesellschaft zu bieten hatte. Kein Wunder, dass ihr der Ruf als berühmteste Bordellbesitzerin Londons anhaftete.
»Bin ich dir in dieser Aufmachung fremd, Grace?«
Grace schüttelte den Kopf. »Ich bin es nur nicht gewohnt, dich so elegant zu sehen.«
Hannah lachte. »Du kennst mich nur als die kleine Hannah aus Sussex. Das war ich einmal. Und
das
bin ich jetzt. Madame Genevieve aus dem mondänen London. Eine der berühmtesten Kurtisanen der Stadt.«
Grace senkte den Blick.
»Kein Grund, sich zu schämen, Grace. Ich fühle mich ganz wohl in meiner Haut.«
»Ich weiß. Und es ist in Ordnung. Wirklich.«
»Aber …«, fuhr Hannah fort, während sie auf sie zukam, »du hast noch so viel von der prüden, unbescholtenen Lady Grace in dir, dass es dich gehörig schockiert, einer waschechten Hure gegenüberzustehen.«
»Nenn dich nicht so«, widersprach Grace bestürzt. »Der Begriff ist zu erniedrigend für dich.«
Hannah lachte. »Ich sehe schon, ich habe dein Zartgefühl verletzt.«
Grace lächelte. »Ich hatte die Hoffnung, ich könnte es verbergen.«
»Es gibt nicht viel, das wir voreinander verbergen können. Dafür sind wir zu lange befreundet.« Hannah nahm Graces Hände und zog sie in ihre Arme. »Und jetzt nimm Platz und sag mir, warum du hier bist«, bat sie, als sie sie wieder freigab. »Das solltest du nämlich nicht. Es schickt sich ganz und gar nicht. Doch die dunklen Ringe unter deinen Augen verraten mir, dass der Grund für dein Kommen ernst sein muss.«
Grace folgte Hannah zu einem Sofa am anderen Ende des Raumes. Als sie Platz nahm, senkte sie den Blick, um die verräterischen Anzeichen der letzten beiden schlaflosen Nächte zu verbergen. Sie war sich nicht sicher, ob sie das, was sie vorhatte, wirklich wagen sollte, wusste jedoch, dass ihr keine Wahl blieb. Es war die einzige Lösung, die ihr einfiel, um der Hölle zu entgehen, die sie durchleiden würde, wenn sie den Baron heiratete.
»Ich bin verzweifelt, Hannah. Ich brauche deine Hilfe.«
Hanna musterte Grace besorgt, während sie sich neben sie setzte und ihre Hände nahm. »Bist du schwanger, Grace?«
Grace riss überrascht die Augen auf. »Ich wünschte nur, es wäre so einfach.«
Hannahs Stirnrunzeln vertiefte sich. »Nun, ich bin erleichtert, dass es das nicht ist, auch wenn ich eine Schwangerschaft nicht gerade als ›einfaches‹ Problem bezeichnen würde. Wenn es kein
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