Intrige (German Edition)
er schließlich.
Ich antworte wie mit Louis abgesprochen. »Ich habe sie ihm nicht persönlich übergeben, Herr General.« Wieder flüchte ich mich in Ausreden. »Es tut mir aufrichtig leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe. Man hat mir mit disziplinarischen Maßnahmen gedroht, wenn ich es wagen sollte, gegen meine Behandlung zu protestieren. Ich musste einfach nach Paris fahren, um mit meinem Anwalt zu sprechen.«
»Das ist ein völlig inakzeptables Verhalten.«
»Ich verstehe, Herr General, und ich entschuldige mich. Ich wusste mir nicht anders zu helfen.«
»Nicht Ihr Verhalten – Billots Verhalten ist inakzeptabel. Und diese Leute besitzen die Frechheit, sich den Afrikanern überlegen zu fühlen.« Er gibt mir die Zeitung zurück. »Leider kann ich einen direkten Befehl der Armeeleitung nicht wider rufen. Aber ich kann ihn hinauszögern. Sie fahren jetzt zurück nach Sousse und tun so, als würden Sie sich auf Ihre Abreise in den Süden vorbereiten. In der Zwischenzeit werde ich sehen, was ich tun kann. Wenn das stimmt, was Sie über Billot sagen, dann ist es jedenfalls gut möglich, dass er nicht mehr lange Minister ist.«
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Am nächsten Tag, einem Sonntag, bringt mir der im Militärklub in Sousse diensttuende Ordonnanzoffizier kurz nach elf die Zeitungen. Der Rest der Garnison ist in der Kirche. Ich habe den Klub für mich allein. Ich lasse mir einen Kognak bringen, nehme eine der beiden Ausgaben von La Dépêche tunisienne, die der Militärklub bezieht, und setze mich wie immer auf meinen Platz am Fenster.
FALL DREYFUS. Paris, 8.35 Uhr. Die Zeitungen sind immer noch der Meinung, Auguste Scheurer-Kestner sei von der Familie des ehemaligen Hauptmanns Dreyfus getäuscht worden, aber auch sie fordern jetzt eine sofortige und umfassende Untersuchung. In einem Interview mit einem Redakteur von Le Figaro brachte Scheurer-Kestner erneut seine Überzeugung zum Ausdruck, dass Dreyfus unschuldig sei. Er sagte aber auch, dass er keine Informationen herausgeben werde, bevor er den Fall nicht den zuständigen Ministern vorgelegt habe. Laut Le Figaro wird Scheurer-Kestner mit dem Präsidenten sowie dem Kriegs- und dem Justizminister zusammentreffen.
Es ist ein Albtraum, untätig herumsitzen zu müssen und nicht zu wissen, was gespielt wird. Zu guter Letzt ent schließe mich dazu, Louis ein Telegramm zu schicken, trinke meinen Kognak aus und gehe zum neuen Postamt am Hafen. Doch dann verlässt mich der Mut, und ich drücke mich zehn Minuten lang in der Bar de la Poste herum, rauche eine Zigarette und schaue einem Dutzend Auslandsfranzosen beim Pétanque auf dem staubigen Platz zu. Die schlichte Wahrheit ist, dass jede Nachricht, die ich schicke oder empfange, mit Sicherheit abgefangen wird, genauso wie ich mit jedem Code, den ich erfinden könnte, die Experten höchstens für ein paar Minuten zum Narren halten könnte.
Am Dienstag treffen endlich die aktuellsten, am Freitag zuvor in Paris erschienenen Zeitungen in Sousse ein. Sie brin gen die ersten Geschichten über Scheurer-Kestners Einmischung in die Dreyfus-Affäre. Le Figaro, Le Matin, La Libre Parole, Le Petit Parisien und alle anderen Blätter, die im Klub herumgereicht werden, lösen Empörung unter meinen Offizierskameraden aus. Von meinem Platz am Fenster aus höre ich ihre Gespräche mit. »Was meinst du, ist dieser Scheurer- Kestner Jude?« – »Tja, wenn er bei dem Namen kein Jude ist, dann ist er bestimmt Deutscher …« – »Was für eine niederträchtige Verleumdung der Armee – hoffentlich fordert ihn jemand zum Duell …« – »Über diesen Morès kann man sagen, was man will, aber der hätte gewusst, wie man mit so einer Kanaille fertigwird …« – »Was halten Sie von dieser Ge schichte, Herr Oberstleutnant, wenn die Frage erlaubt ist?«
Es ist so ungewohnt für mich, im Klub angesprochen zu werden, dass es einen Augenblick dauert, bis ich begreife, dass sie mit mir reden. Ich lege mein Buch zur Seite und drehe mich im Sessel um. Ein halbes Dutzend schnauzbärtiger, gebräunter Gesichter schaut mich an. »Pardon«, sage ich. »Was halte ich wovon …?«
»Von diesen Lügengeschichten, dass dieser Dreyfus unschuldig sein soll.«
»Ach, das? Üble Geschichte, meinen Sie nicht auch? Sehr üble Geschichte.« Diese schlaue Bemerkung scheint sie zufriedenzustellen, sodass ich mich wieder meinem Buch zuwenden kann.
Am Mittwoch ist es ruhig. Am Donnerstag dann berichtet La Dépêche von neuen Entwicklungen:
FALL DREYFUS.
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