Intrige (German Edition)
antrabende Pferd drückt uns in den Sitz. »Mein Gott, Georges, wir sind auch nicht mehr die Jüngsten, was?«, sagt Mercier-Milon lachend und wischt sich mit einem großen, weißen Stofftaschentuch das Gesicht ab. Er grinst mich an und scheint für einen Augenblick vergessen zu haben, dass er mein Bewacher ist. Er öffnet das Fenster – »Hôtel Terminus, Kutscher!« – und schlägt es wieder zu.
Während der kurzen Fahrt sitzt er mit verschränkten Armen da und schaut aus dem Fenster. »Gestern ist etwas Komisches passiert«, sagt er plötzlich, als wir schon in die Rue Saint-Lazare einbiegen. »General Pellieux hat mich gefragt, warum ich zugunsten von Dreyfus ausgesagt habe.«
»Und, was hast du gesagt?«
»Dass ich nur für mich sprechen kann und ihn persönlich immer für einen guten Soldaten und loyalen Menschen gehalten habe.«
»Und was hat er dazu gesagt?«
»Dass er selbst auch versucht, die Sache unvoreingenom men zu beurteilen. Aber als ihn das Ministerium letzte Woche mit dieser Untersuchung beauftragt hat, da hätte General Gonse ihm Beweise vorgelegt, die zweifelsfrei belegten, dass Dreyfus ein Verräter sei. Seitdem ist er davon überzeugt, dass deine Anschuldigungen gegen Esterházy falsch sind. Für ihn stellt sich jetzt nur noch die Frage, ob du von einem jüdischen Syndikat hereingelegt worden bist oder ob du dich von ihnen bezahlen lässt.« Er sieht mich jetzt doch an. »Ich dachte, das solltest du wissen.«
In diesem Augenblick halten wir an, und noch bevor Mer cier-Milon die Tür öffnen kann, ist die Kutsche von Reportern umringt. Mercier-Milon steigt aus, taucht in das Gewühl ein und bahnt uns mit den Ellbogen einen Weg. Ich folge dicht hinter ihm, und sobald ich das Foyer betreten habe, stellt sich der Portier mit ausgebreiteten Armen vor den Eingang und lässt niemand mehr herein. Périer steht auf dem Marmorboden unter den grellen Paillettenkronleuchtern und wartet schon, um mich sofort nach oben zu bringen. Ich drehe mich um, um mich bei Mercier-Milon für seine Warnung zu bedanken, aber er ist schon gegangen.
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Man erlaubt mir nicht, im Erdgeschoss im Beisein anderer Menschen zu essen. Ich protestiere nicht, da ich ohnehin keinen Appetit habe. Das Abendessen wird uns aufs Zimmer gebracht. Ich schneide eine Zeit lang an einem Stück Kalbfleisch herum, bis ich schließlich den Teller angewidert zur Seite schiebe. Gegen neun bringt ein Hoteldiener einen Brief, der an der Rezeption für mich abgegeben wurde. Ich erkenne Louis’ Handschrift auf dem Umschlag. Ich würde den Brief gern lesen. Ich vermute, dass er Hinweise darauf enthält, was ich morgen am zweiten Tag der Vernehmung zu erwarten habe. Aber ich will Pellieux keinen Vorwand liefern, weitere disziplinarische Maßnahmen gegen mich zu ergreifen. Also verbrenne ich ihn ungeöffnet vor den Augen Périers im Kamin.
In der Nacht liege ich wach, muss mir den im anderen Bett schnarchenden Périer anhören und versuche, mir über meine schwache Position klar zu werden. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, sie bleibt prekär. Ich bin meinen Feinden ausgeliefert, an Händen und Füßen gefesselt durch winzige Fäden aus hundert Lügen und Andeutungen, die im Laufe des vergangenen Jahres sorgfältig gesponnen wurden. Die meisten Menschen glauben nur zu gern, dass ich für ein jüdisches Syndikat arbeite. Und solange die Armee ihre eigenen Untaten untersuchen darf, sehe ich keinen Ausweg. Wenn Gonse und Henry einen sicheren Beweis benötigen, erfinden sie ihn einfach und legen ihn vertraulich Pellieux und seinesgleichen vor, wohl wissend, dass loyale Offiziere wie sie immer das tun werden, was man von ihnen verlangt.
Die vielen Automobile, die draußen auf der Rue Saint-Lazare selbst um Mitternacht noch fahren, machen mehr Lärm, als ich jemals gehört habe. Die Geräusche der pneumatischen Reifen auf dem nassen Asphalt sind neu für mich. Es hört sich an wie zerreißendes Papier und schläfert mich schließlich ein.
Als Mercier-Milon mich am nächsten Morgen abholt, schweigt er mich wieder schroff an. Er macht den Mund lediglich auf, um mir zu sagen, dass ich meinen Koffer mitnehmen solle, weil ich nicht mehr ins Hotel zurückkehren werde.
Als hätten sie die ganze Nacht in dem Befragungsraum an der Place Vendôme unter Zeltbahnen ausgeharrt, sitzen Pellieux und die anderen auf denselben Plätzen wie am Vortag. Der General fährt fort, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. »Erzählen Sie uns doch bitte
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