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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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nie lange an einem Ort.«
    »Und wir werden nicht verfolgt?«
    »Nein. Ich habe meine Schicht gewechselt, heute Abend bin ich für Ihre Beschattung eingeteilt. Was die Sûreté angeht, Herr Oberstleutnant, verbringen Sie heute einen gemütlichen Abend zu Hause.«
    Wir nehmen eine Droschke über den Fluss. Etwas südlich von der École Militaire lasse ich den Kutscher halten. Den Rest des Weges gehen wir zu Fuß. Der Abschnitt der Rue de Sèvres, in dem sich das Hotel befindet, ist schmal und nur schwach beleuchtet. Das de la Manche ist nicht zu verfehlen. Es ist ein schmales, heruntergekommenes Gebäude, das zwischen einer Metzgerei und einer Bar eingeklemmt ist. Es ist die Sorte Hotel, in der Handelsreisende absteigen und man für ein Schäferstündchen wahrscheinlich auch stunden weise zahlen kann. Desvernine geht als Erster hinein, ich folge ihm. Der Concierge ist nicht an seinem Platz. Durch einen Perlenvorhang sehe ich Leute, die in einem kleinen Speisezimmer zu Abend essen. Es gibt keinen Aufzug. Die enge Treppe knarzt bei jedem Schritt. Wir steigen hoch in den dritten Stock, wo Desvernine an eine Tür klopft. Keine Antwort. Er dreht am Türgriff: abgeschlossen. Er legt den Finger an die Lippen. Wir lauschen. Aus dem Zimmer nebenan sind gedämpfte Stimmen zu hören.
    Desvernine zieht eine Lederrolle mit Einbruchswerkzeugen aus der Tasche, die genauso aussieht wie die, die er mir gegeben hatte. Er kniet sich auf den Boden und macht sich an die Arbeit. Ich knöpfe meinen Mantel und meine Jacke auf und spüre den beruhigenden Druck der Webley an der Brust. Nach einer Minute springt das Schloss auf. Desvernine steht auf, verstaut in aller Ruhe die Werkzeuge und steckt die Rolle wieder in die Tasche. Er schaut mich an und öffnet leise die Tür. Im Zimmer ist es dunkel. Er tastet nach dem Schalter und knipst das Licht an.
    Mein erster Gedanke ist, dass unter dem Fenster eine große schwarze Puppe in Sitzposition an der Wand lehnt – eine Schneiderpuppe vielleicht, aus schwarzem Gips. Ohne sich umzudrehen oder ein Wort zu sagen, hebt Desvernine die linke Hand, damit ich stehen bleibe. In der anderen Hand sehe ich jetzt einen Revolver. Er durchquert mit drei, vier Schritten das Zimmer, schaut hinunter auf das puppenartige Ding unter dem Fenster und flüstert dann: »Machen Sie die Tür zu.«
    Ich gehe weiter ins Zimmer und sehe, dass das Ding Lemercier-Picard ist – oder wie immer sein richtiger Name war. Das Kinn des schwarzviolett angelaufenen Gesichts liegt auf der Brust. Die Augen stehen offen, die Zunge quillt aus dem Mund, die Hemdbrust ist mit Schleim verklebt. Tief eingegra ben in die Hautfalten des Halses ist eine dünne Kordel, die, gespannt wie eine Harfensaite, hinter dem Nacken nach oben verläuft und am Griff des Flügelfensters festgebunden ist. Ich stehe jetzt so nah vor ihm, dass ich die Füße und den unteren Teil der Beine sehen kann. Sie sind nackt und blutunterlaufen und liegen auf dem Boden auf, während die Hüften ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Die Arme hängen an den Seiten herunter, die Hände sind zu Fäusten geballt.
    Desvernine streckt eine Hand aus und tastet am geschwol lenen Hals nach dem Puls, geht dann in die Hocke und durchsucht mit schnellen Handgriffen die Leiche.
    »Wann haben Sie zuletzt mit ihm gesprochen?«, frage ich ihn.
    »Heute Morgen. Er stand genau hier am Fenster, so leben dig wie Sie.«
    »Litt er an Depressionen? War er selbstmordgefährdet?«
    »Nein, er hatte nur Angst.«
    »Wie lange ist er schon tot?«
    »Er ist schon kalt, aber noch nicht steif. Zwei Stunden, vielleicht drei.«
    Er richtet sich wieder auf und geht zum Bett, auf dem ein offener Koffer liegt. Er kippt den gesamten Inhalt aus, geht den erbärmlich kleinen Haufen der Habseligkeiten durch und fischt Federhalter, Schreibfedern, Bleistifte, Tintenfässchen heraus. Über einer Stuhllehne hängt eine Tweedjacke. Aus einer der Innentaschen zieht Desvernine eine Brieftasche, schaut in die Fächer, fasst dann in die Seitentaschen. In einer sind Münzen, in der anderen der Zimmerschlüssel.
    Ich schaue ihn an. »Kein Zettel, keine Mitteilung?«
    »Nicht der kleinste Schnipsel Papier. Seltsam für einen Fälscher, meinen Sie nicht auch?« Er wirft alles wieder in den Koffer. Dann hebt er die Matratze hoch und klopft die Unterseite ab, öffnet die Schublade des Nachttischs, schaut in den schmuddeligen Schrank, rollt den viereckigen Läufer zusammen. Schließlich steht er mit den Armen in die

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