Intrige (German Edition)
Stadtkaserne, von außen wie innen gleich dunkel und hässlich. Ich gebe dem Pförtner meine Visitenkarte – Oberstleutnant Georges Picquart, Kriegsministerium – und sage ihm, dass ich Monsieur Alphonse Bertillon sprechen möchte. Schlagartig zeigt der Mann Respekt. Er bittet mich, ihm zu folgen. Er schließt eine Tür auf, geleitet mich hindurch und verschließt sie wieder. Wir steigen eine schmale, gewundene Steintreppe hinauf, Stock werk um Stockwerk auf so steilen Stufen, dass ich mich etwas vornüberbeugen muss. Einmal müssen wir stehen bleiben und uns an die Wand drücken, um ein Dutzend Häftlinge vorbeizulassen, die im Gänsemarsch nach unten gehen. In ihrem Sog lassen sie den Gestank von Schweiß und Verzweiflung zurück. »Von denen hat Monsieur Bertillon die Maße genommen«, erklärt mein Führer, als kämen sie gerade vom Schneider. Wir setzen unseren Aufstieg fort. Schließlich schließt er eine weitere Tür auf, und wir treten in einen sonnendurchfluteten Gang mit nackten Holzdielen. »Wenn Sie bitte hier warten würden«, sagt er. »Ich gebe ihm Bescheid.«
Wir befinden uns im obersten Stockwerk des Gebäudes mit Blick nach Westen. Wegen der aufgestauten Hitze komme ich mir wie in einem Treibhaus vor. Draußen vor den Fenstern von Bertillons Laboratorium, jenseits der Schornsteinaufsätze der Präfektur, heben und senken sich die wuchtigen Dächer des Justizpalastes wie ein Meer aus blauem Schiefer, aus dem die elegante, goldene und schwarze Turmspitze der Sainte-Chapelle heraussticht. Die Wände sind mit Hunderten von Verbrecherfotos bepflastert, mit Köpfen von vorn und im Profil. Die Anthropometrie – oder auch »Bertillonage«, wie unser maßgeblicher Fachmann seine Methode bescheiden nennt – behauptet, mit einer Kombination aus zehn verschiedenen Messungen jedes mensch liche Wesen unfehlbar identifizieren zu können. In einer Ecke steht eine Laborbank mit einem eingelassenen Metermaß aus Metall und einer verstellbaren Messlatte, um die Länge von Unterarmen und Fingern zu bestimmen; in einer anderen Ecke befindet sich ein Holzgestell so groß wie eine Staffelei, um die Körpergröße zu messen, sitzend (für die Länge des Torsos) und stehend; in einer dritten Ecke steht eine Apparatur mit bronzenen Messschiebern, um die Schädelmaße zu erfassen. Des Weiteren gibt es eine riesige Kamera, einen Labortisch mit einem Mikroskop und einem auf einen Sockel montierten Vergrößerungsglas sowie mehrere Aktenschränke.
Ich gehe an den Wänden entlang und schaue mir die Foto grafien an. Sie erinnern mich an eine riesige naturwissen schaftliche Sammlung von Schmetterlingen oder aufgespießten Käfern. In den Gesichtern der Häftlinge spiegeln sich so unterschiedliche Emotionen wie Furcht, Scham, Trotz, Gleich gültigkeit. Manche sehen übel zugerichtet aus, halb verhungert oder verrückt. Keiner lächelt. Inmitten dieser An sammlung menschlicher Verzweiflung stehe ich plötzlich vor der Fotografie von Alfred Dreyfus. Bestürzt schaue ich in das ausdruckslose Buchhaltergesicht über der zerrissenen Uniform. Ohne wie üblich mit Brille oder Kneifer sieht es nackt aus. Sein Blick bohrt sich in meine Augen. Die Bildunterschrift lautet: Dreyfus 5. 1. 9 5 .
»Oberstleutnant Picquart?« Ich drehe mich um, und vor mir steht Bertillon mit meiner Karte in der Hand. Er ist untersetzt, blass, Anfang vierzig, dichtes, schwarzes Haar. Der steife, rechtwinklig geschnittene Bart sieht aus wie die Schneide einer Axt. Wenn ich mit dem Finger daran entlang führe, stelle ich mir vor, flösse Blut.
»Guten Tag, Monsieur Bertillon. Wie ich sehe, gehört auch Hauptmann Dreyfus zu Ihrer Sammlung.«
»Ja, richtig, die Aufnahme habe ich selbst gemacht«, sagt Bertillon. Er tritt ein paar Schritte vor und stellt sich neben mich. »Ich habe ihn gleich nach seiner Degradierung fotografiert, als er ins Gefängnis La Santé eingeliefert wurde.«
»Er sieht anders aus, als ich ihn in Erinnerung habe.«
»Der Mann war in Trance – ein Schlafwandler.«
»Wie sollte man es auch sonst ertragen, wenn man so etwas durchmacht.« Ich öffne meine Aktentasche. »Dreyfus ist auch der Grund meines Besuchs. Ich bin Oberst Sandherrs Nachfolger als Leiter der Statistik-Abteilung.«
»Ich weiß, Herr Oberstleutnant, ich habe Sie bei der Verhandlung vor dem Kriegsgericht gesehen. Was gibt es Neues zu Dreyfus?«
»Wären Sie so nett, sich das hier einmal anzuschauen?« Ich gebe ihm die Abzüge der beiden Esterházy-Briefe. »Was
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