Invasion der Götter
Fenster und sah, wie die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen.
»Es schneit«, sagte sie voller Begeisterung, wie ein kleines Kind, das sich das ganze Jahr über den ersten Schneefall herbeigesehnt hatte.
Jona reagierte sofort, da er wusste, wie sehr seine Frau den Schnee liebte, und sprach den einzigen Satz, den er auf Französisch beherrschte:
»L’addition, s’il vous plaît!«
»Un moment, s’il vous plaît!«, rief der Kellner hinter der Theke, während Iris sehnsüchtig aus dem Fenster blickte.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis der Kellner schließlich mit seiner Geldbörse am Tisch stand und die beiden erwartungsvoll ansah.
»War alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte er die beiden mit einem starken französischen Dialekt.
»Sicher! Wie viel schulden wir Ihnen?«, entgegnete Jona. Auch wenn er die Stadt sehr mochte, widerstrebten ihm ihre Einwohner. Er fand sie arrogant und schnippisch in ihrer Art.
»Vingt-trois Euros«, sagte der Kellner und legte ihm einen Beleg vor die Nase. Jona verdrehte die Augen, da er einen so hohen Betrag nur für ein einfaches Frühstück nicht erwartet hätte. Er kramte seine Geldbörse heraus und gab es dem Kellner auf den Euro passend. Dieser sah ihn mürrisch an, wünschte ihnen auf Französisch einen schönen Tag und verließ den Tisch.
Jona und Iris standen dicht beieinander vor dem berühmten Caférestaurant mit der roten Markise und sahen über die Place de l’École Militaire hinweg, in das verschneite Bild der Avenue de La Motte-Picquet. Die Luft war so kühl und rein, dass sie ihren Atem sehen konnten. Die kleinen Schneeflocken fielen auf ihre schwarzen Wollmäntel und schmolzen unverzüglich. Iris schloss ihre Augen, holte tief Luft, hielt einen Moment inne und atmete dann befreit wieder aus.
Jona sah seiner Geliebten tief in die Augen.
»Wollen wir?«
»Ja«, entgegnete sie mit einem glücklichen Ausdruck in ihrem Gesicht.
Sie hakte sich bei Jonathan ein, und sie überquerten die beiden Straßenhälften und liefen in Richtung Parc du Champ de Mars, zu Deutsch Marsfeld. Diese Namensgebung hatte allerdings nichts mit dem Planeten zu tun. Dieser langgezogene Park, der sich vom Eiffelturm bis zum Hauptportal der Pariser Militärschule hinzog, war früher ein Acker. Dort wurden die aus dem amerikanischen Kontinent importierten Kartoffelpflanzen angebaut, und dies geschah im Monat März, französisch Mars, benannt nach dem römischen Gott. Bevor es zu einem französischen Wahrzeichen wurde, war das Champ de Mars also ein Kartoffelfeld.
Wenige Fußgänger waren auf der Avenue de La Motte-Picquet unterwegs, während das Schneetreiben zunehmend stärker wurde. Auch wenn die Flocken auf dem noch zu warmen Asphalt des Gehsteigs und den Pflastersteinen der Straße unmittelbar nach ihrem Auftreffen schmolzen, blieb eine feine Schicht aus Neuschnee auf den Fenstersimsen der l’École Militaire liegen.
Am Anfang des Champ de Mars befand sich die Le Mur pour la Paix, zu Deutsch die Mauer des Friedens, die von der Künstlerin Clara Halter und dem Architekten Jean-Michel Wilmotte erbaut worden war. Sie war ein Denkmal für den Frieden und bestand aus zweimal sechzehn Pfeilern, auf denen jeweils in einer anderen Sprache ein Wort geschrieben stand. Auf den Oberflächen der linearen Architektur wiederholte sich in allen zweiunddreißig Sprachen nur dieses eine Wort – Frieden. Im Zentrum befand sich eine ungewöhnliche tunnelartige Konstruktion. Ihr Dach war aus Glas, und sowohl rechts als auch links befanden sich Wände aus silbern ummanteltem Metall.
Auch wenn es ironisch gewesen sein mochte, ausgerechnet direkt vor einer Militärschule ein Denkmal des Friedens zu positionieren, war Iris geradezu ergriffen von diesem Kunstwerk.
Allein der Gedanke, dass zweiunddreißig Nationen hier ihren Willen zum Weltfrieden bekundeten, rührte sie beinahe zu Tränen. Doch zugleich wusste sie, dass der globale Frieden wahrscheinlich erst mit der nahezu vollständigen Ausrottung der Menschheit eintreffen würde. Auch wenn sie die Hoffnung immer noch in sich trug, wusste sie, dass es letztlich naiv war zu glauben, es würde sich je etwas ändern – das war nichts als Illusion.
Worin sie jedoch keiner Täuschung unterlag, war das Bild, das sich ihr offenbarte, als sie zusammen mit Jona durch den schmalen Gang des Monumentes lief. Trotz des starken Schneefalls war das wohl größte Wahrzeichen Paris’ deutlich zu erkennen. Ein Relikt der Weltausstellung von 1889, der 10.000
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