Invasion der Götter
wischte sich die Tränen aus den Augen und griff nach der Hand des Mannes. Sogleich stand Benu auf seinen kleinen Beinchen und klopfte sich den Staub von seinem schmutzigen beigen Leinengewand.
»Wie ist dein Name?«, fragte er den Fremden, und während er zu ihm aufblickte, fiel ihm auf, dass er ungewöhnlich groß war. Im Vergleich zu den Männern seines Dorfes war er beinahe ein Gigant. Dennoch verspürte Benu keine Furcht.
»Mein Name ist Enki, das bedeutet Herr der Erde«, antwortete der Fremde liebenswert.
Benu war erstaunt über die Aussage des Giganten.
»Enki sagtest du? Der Enki, zu dem meine Mutter immer betete und den sie bat mich zu beschützen?«, fragte er mit großen Augen.
»Das mag durchaus sein«, antwortete er ihm und fragte: »Warum bist du hier so ganz alleine?«
Benus Blick richtete sich beschämt zu Boden.
»Ich habe geklaut, und aus diesem Grund hat mein Vater mich bestraft«, gestand er bedauernd.
»Und warum hast du gestohlen?«
»Weil ich Hunger hatte«, sagte Benu.
Enki sah viele blaue Flecken und Blessuren auf dem Körper des Jungen, die durch sein zerrissenes und mit Löchern übersätes Gewand durchschienen. Einige von ihnen schienen bereits Tage alt zu sein.
»Dein Vater bestraft dich sehr oft für Dinge, oder?«, wollte der blonde Gigant wissen.
»Seit meine Mutter starb, hat sich mein Vater sehr verändert. Er trinkt sehr viel, und dann kann es passieren, dass ...« Benu stockte, während ihm wieder Tränen die Wangen hinunterliefen. Enki wischte mit einem Finger über sein Gesicht.
»Dort, wo ich herkomme, braucht niemand zu hungern. Alle haben reichlich zu essen, und keiner hat auch nur das Bedürfnis, einem anderen etwas wegzunehmen oder gar Gewalttätigkeiten auszuüben«, sagte Enki beruhigend.
»Diesen Ort möchte ich gerne sehen. Kann ich nicht mit dir kommen?«
Enki sah den kleinen Jungen mitleidig an.
»So gerne ich dich auch mitnehmen würde, aber dies ist nicht möglich. Nicht in diesem Leben und auch noch nicht in den folgenden. Eines Tages jedoch wird die Zeit gekommen sein, an dem dein Geist reif genug sein wird«, erklärte Enki mit sanfter Stimme.
»Das verstehe ich nicht!«, gestand der Junge.
»Wie könntest du auch, junger Benu? Auch wenn ich dich nicht mitnehmen kann, so bin ich doch dazu in der Lage, dir meine Welt zu zeigen.«
Enki streckte dem Jungen abermals seine Hand entgegen, und Benu griff danach.
Plötzlich war es so, als gingen sie durch einen langen Tunnel aus Licht. Am Ende war es für einen Moment lang finster, dann sah Benu, was um ihn herum war. Ein seltsamer Ort, dachte sich der Junge. Alle Pflanzen waren hier blau gefärbt und der Himmel war violett. Die Bäume, deren Stämme so dick waren wie ein Haus, ragten so hoch hinauf, dass der Junge deren Wipfel kaum erahnen konnte.
»Das findest du schon atemberaubend?«, fragte ihn Enki, der sich ein wenig über das sich erstaunt umblickende Kind amüsierte. »Komm mit mir, ich zeige dir etwas noch viel Beeindruckenderes. Allerdings ist es ein wenig entfernt von hier. Deine kleinen Füße werden nach diesem Marsch sicherlich schmerzen«, sagte Enki und nahm Benu auf seine Schultern.
So wanderte der Gigant mit dem Jungen, der nun in einer Höhe von über zwei Metern alles viel besser überschauen konnte, durch den eigenartigen Wald. Erst jetzt fielen ihm auch die ungewöhnlichen Geräusche auf, die aus dem Unterholz drangen. Einige hörten sich an wie Vögel, doch er konnte keine am Himmel entdecken, andere Laute hingegen hatte er noch nie vernommen. Was mochten dies nur für Kreaturen sein? Eigentlich wollte er es lieber nicht wissen, da einige Stimmen sehr düster klangen.
»Wir sind da!«, sagte Enki und schob einen dicht bewachsenen Ast beiseite. Benu konnte die Augen und seinen Mund vor Staunen nicht weit genug aufreißen, als er in das Tal vor sich blickte.
Vor seinen Augen erstreckte sich eine weiße Stadt. Sie war so weitläufig, dass, wenn man den Mittelpunkt erfasste, nicht mehr die äußeren Ränder erkennen konnte. Unzählige Türme erhoben sich in den Himmel, und einer schien den anderen überragen zu wollen. Doch der unumstrittene König war der, der in der Mitte seinen Platz hatte. Er maß beinahe die doppelte Höhe der anderen.
»Dies ist die Stadt von An, meinem Vater. Auch wenn die ersten Menschen von mir erschaffen wurden, so war er es, der das Ganze erst möglich machte. Er hat unserer Zivilisation erst diesen Wohlstand gebracht. Die Menschen sind davon
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