Inversionen
plünderten die Versorgungsreihen des Protektorats, räumten gewaltsam Heereslager, überfielen Wagenkolonnen aus dem Hinterhalt, nahmen Waffen an sich, die eigentlich dafür vorgesehen gewesen waren, gegen sie gerichtet zu werden, zum eigenen Gebrauch an sich, und zwangen Truppen, die an der Front gebraucht wurden, sich an jede Nachschubkarawane zu binden. General Ralboute persönlich wäre beinahe bei einem waghalsigen nächtlichen Überfall getötet oder gefangengenommen worden, der von der belagerten Stadt Zhirt ausgegangen war. Nur Glück und einige verzweifelte Kämpfe von Mann zu Mann hatten eine Katastrophe verhindert. Der General mußte eigenhändig zum Schwert greifen und wäre um ein Haar in den allgemeinen Kampf miteinbezogen worden.
Man hört immer wieder, daß eine der Situationen, die ein Soldat für seinen Feind herbeiwünscht und für sich selbst fürchtet, der sogenannte Zangengriff ist. Man kann sich deshalb also ungefähr vorstellen, was UrLeyn empfand, als er in Niarje sich genau in einer solchen mißlichen Lage befand; allerdings war er nicht etwa von zwei Seiten dem Angriff feindlicher Truppen ausgesetzt, vielmehr wurde sein Zwiespalt durch verschiedene Nachrichten ausgelöst. Die Nachricht, daß der Krieg in Ladenscion so ungünstig verlief, traf einen halben Tag vor der Nachricht aus der anderen Richtung ein, die, wenn überhaupt, noch schlechter war und die die Krankheit seines Sohnes betraf.
UrLeyn schien in sich selbst hineinzuschrumpfen. Seine Hand, die den Brief hielt, sackte herab, und das Schreiben flatterte zu Boden.
Er ließ sich schwer auf seinen Stuhl am Kopfende des Eßtisches im alten Herrschaftshaus der Ducals im Zentrum von Niarje sinken. DeWar, der gleich hinter UrLeyns Stuhl stand, bückte sich und hob den Brief auf. Er faltete ihn zusammen und legte ihn neben UrLeyns Teller.
»Herr?« fragte Doktor BreDelle. Die anderen Begleiter des Protektors, allesamt Heeresoffiziere, machten besorgte Gesichter.
»Der Junge«, sagte UrLeyn leise zu dem Arzt. »Ich weiß, ich hätte nicht von ihm weggehen dürfen oder hätte Euch bitten müssen, bei ihm zu bleiben, Doktor…«
BreDelle sah ihn einen Augenblick lang an. »Wie schlecht geht es ihm?«
»Er befindet sich an der Schwelle des Todes«, sagte UrLeyn und senkte den Blick auf den Brief. Er reichte ihn dem Arzt, der ihn las.
»Ein erneuter Anfall«, sagte er. BreDelle tupfte sich den Mund mit seiner Serviette ab. »Soll ich nach Crough zurückkehren, Herr? Ich kann gleich beim ersten Tageslicht aufbrechen.«
Der Protektor starrte eine Weile auf den Tisch hinab, den Blick auf nichts gerichtet. Dann schien er sich innerlich zu straffen. »Ja, Doktor. Und ich komme mit.« Der Protektor ließ den Blick um Entschuldigung heischend über die anwesenden Offiziere schweifen. »Meine Herren«, sagte er, wobei er die Stimme hob und den Rücken durchdrückte. »Ich muß Euch bitten, den Weg nach Ladenscion ohne mich fortzusetzen, zumindest fürs erste. Mein Sohn ist krank. Ich hatte gehofft, ich würde ebenso bald wie Ihr zu unserem letztendlichen Sieg beitragen, doch ich fürchte, selbst wenn ich Euch weiterhin begleiten würde, würden mein Herz und meine Aufmerksamkeit ständig nach Crough zurückgezogen. Ich bedaure, daß der Ruhm nun allein der Eure sein wird, es sei denn, Ihr bemüht Euch, den Krieg hinauszuzögern. Ich werde mich wieder zu Euch gesellen, sobald es mir möglich ist. Bitte vergebt mir und habt Nachsicht mit der väterlichen Schwäche eines Mannes, der – in meinem Alter – eigentlich Großvater sein müßte.«
»Herr, natürlich!«
»Ich bin sicher, wir alle haben Verständnis dafür, Herr.«
»Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, damit Ihr stolz auf uns sein könnt, Herr.«
Die Beteuerung von Unterstützung und Verständnis setzten sich fort. DeWar blickte mit einem Gefühl von Angst und böser Vorahnung in die jungen, eifrigen, ernsten Gesichter der jungen Adligen, die beim Festmahl versammelt waren.
»Perrund? Seid Ihr das?«
»Ja, ich bin’s, junger Herr. Ich dachte, ich setze mich zu Euch.«
»Perrund, ich kann nichts sehen.«
»Es ist sehr dunkel. Der Arzt meint, Ihr würdet schneller wieder gesund, wenn man Euch nicht dem Licht aussetzt.«
»Ich weiß, aber trotzdem kann ich nichts sehen. Haltet meine Hand, ja?«
»Ihr dürft keine Angst haben. Krankheit erscheint einem als etwas so Schreckliches, wenn man jung ist, aber solche Dinge
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