Irgendwann Holt Es Dich Ein
Wickelkleid vor ihm stand. Sie hielt das Haar zu einer Art Knoten hoch, wobei die blassen Innenseiten ihrer Arme faszinierend zart aussahen. Eine Woge der Liebe erfasste ihn, so warm und zärtlich, dass sie ihm Tränen in die Augen trieb. Er wollte Kate so gern helfen, doch sie ließ ihn nicht an sich heran.
»Alles wird wieder gut«, sagte er, weil ihm nichts Besseres einfiel. »Wir stehen das durch.«
Leider wusste er nicht, was er mit »das«, meinte.
Kate sah ihn eine halbe Ewigkeit an, und er glaubte, Tränen in ihren Augen zu erkennen. Aber er konnte ihre Mimik nicht lesen. Sie öffnete den Mund, und er war sicher, dass sie etwas Wichtiges sagen wollte. Bitte, flehte er im Geiste. Rede mit mir! Was sie aber nicht tat. Stattdessen sagte sie: »Ist das okay? Dieses Kleid? Entschuldige, ich bin ein bisschen durch den Wind. Geht es so?« Ihre Stimme war ohne jeden Ausdruck, und unweigerlich fühlte sich Neil an jemanden erinnert, der soeben aus einem Koma aufwachte.
Dann nahm er sie in die Arme, ganz fest. Sie zuckte leicht zusammen, wich jedoch nicht zurück. Kate stand da und ließ sich von ihm umarmen, ohne die Umarmung zu erwidern. Er küsste sie auf die Stirn, an die Stelle, wo ihr spitz zulaufender Haaransatz begann, und hielt sie weiter fest. Unterdessen bemerkte er, dass ihm, im Gegensatz zu Kate, die Tränen aus den Augen liefen.
Sie wären beinahe zu spät zur Trauerfeier gekommen, und ausnahmsweise war Kate schuld, wie sie selbst wusste. Dabei war Kate stets pünktlich auf die Sekunde, denn sie hasste es, die Kontrolle über die Zeit zu verlieren. Ein Teil der Verspätung war nicht zu ändern gewesen. Seit dem Besuch bei Rosemary spielte ihr Verstand verrückt - ja, eigentlich seit Hatties Tod. Jeder Versuch, klar zu denken, die Orientierung zu wahren, ähnelte einem Waten durch Sirup. Es war, als habe ihr jemand eine Schaufel über den Schädel gezogen und sie müsse von neuem lernen, wie sie Entscheidungen traf. Alltägliche Aufgaben konnte Kate erledigen. Sie schaffte es, zur Arbeit zu gehen und täglich an ihrem Studioschreibtisch zu funktionieren. Sie konnte nach Hause fahren und sich Abendessen bereiten. Sie bewältigte sogar oberflächliche Unterhaltungen. Aber alles, was vom Gewohnten abwich, was ein Urteil oder eine Entscheidung verlangte - womöglich gar unter Beteiligung ihrer Emotionen -, stellte sie vor Probleme. Es machte ihr Angst, wie seltsam, wie fremd sie sich fühlte. Ihr war nicht klar gewesen, dass ein Schock so lange anhalten könnte.
Kate war nach wie vor übel, und sie fror immer noch, obwohl es ein verhältnismäßig lauer Tag war. Sie hatte sich in einen dunklen Mantel und eine Mütze eingemummelt und ihren lila Schal um Hals und Kinn gewickelt. Glücklicherweise bedeckte der Schal so viel von ihrem Gesicht, dass niemand sie erkennen würde. Hattie war einigermaßen bekannt gewesen und ihr Tod gerade dramatisch genug, dass die Trauerfeier eine Meldung wert war, und so wartete eine kleine Traube von Pressefotografen vor der Kirche. Neil legte schützend einen Arm um Kates Schultern und führte sie an den Knipsenden vorbei, als wäre er ihr Leibwächter. Zum ersten Mal seit der Trennung war sie dankbar, dass Neil sie berührte und seine Berührung so natürlich und ungezwungen wirkte.
Sie liebte Neil, und die Ehe mit ihm war ihr keineswegs zuwider. Sie sah nur keinen Sinn mehr darin. Sie hatten sehr jung geheiratet - Kate war erst zweiundzwanzig gewesen -, aber ihre Ehe war stets stabil gewesen, weil sie gemeinsame Ziele hatten: Beide wollten sie es in ihrem Beruf zu etwas bringen, wollten einen höheren Lebensstandard erreichen als ihre Eltern und eine Familie gründen. Immerhin war der Lebensstandard da: das schöne Haus; die riesige lichtdurchflutete Küche mit den Flügeltüren zur kleinen gepflasterten Terrasse, deren Steine schimmerten wie Goldstaub mitten in London; die großen, luftigen Zimmer mit den hohen viktorianischen Decken, den Originalkaminen und Stuckaturen. Das Haus hätte direkt aus einer Wohnzeitschrift stammen können. Und dennoch konnte Kate sich des Gefühls nicht erwehren, dass sie irgendwo auf dem Weg hierher ihre Karriere geopfert hatte. Sie hatte ihre beruflichen Ziele für eine Familie geopfert, die es nie geben sollte, und nun fragte sie sich, welchen Sinn und Zweck ihre Ehe eigentlich noch hatte. Sie hatte zwar keineswegs bewusst geplant, eine Trennung vorzuschlagen; sondern hatte sich eher unvermittelt erdrückt und durch tausend
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