Irgendwann Holt Es Dich Ein
Nichtigkeiten von Neil verärgert gefühlt. Und sie überlegte, ob sie an diesem Punkt in ihrem Leben nicht lieber ausbrechen sollte, statt weiter auf den öden, ausgetretenen Pfaden zu trotten. Sie hatte das Gefühl, als bewegten Neil und sie sich einfach nicht mehr auf demselben Weg, nicht einmal auf derselben Umlaufbahn.
Sie hockten zusammengedrängt in einer Kirchenbank weit hinten in der fast vollen Kirche, und von ihrem Platz aus konnten sie lediglich die Hinterköpfe der anderen Leute sehen. Was Kate ganz recht war, und sie war froh über den Schal, der ihr Gesicht verhüllte. Auch wenn sie es Neil gegenüber nie zugeben würde - ja, es kaum sich selbst eingestand -, wollte sie von niemandem erkannt werden, der mit ihr zur Schule gegangen war. Das war wohl einer der Gründe, weshalb sie vor der Trauerfeier so getrödelt und ihren Aufbruch hinausgezögert hatte. Seit zwanzig Jahren hatte sie weder Susan Sullivan noch Serena Lacey oder irgendein anderes der Mädchen von der Lady Jane Grey gesehen, und auch jetzt wollte Kate sie nicht sehen. Auch nach so vielen Jahren hatte sie immer noch Angst.
Nein, »Angst« war wohl nicht das richtige Wort. In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wie sie sich ihren damaligen Mitschülerinnen gegenüber verhalten sollte. Auf jeden Fall hatte sie ihnen nichts zu sagen. Sie war nicht im Mindesten interessiert, mit ihnen zu reden oder von ihnen zu hören, wie es ihnen seit der Schulzeit ergangen war. Deshalb mied sie Klassentreffen und diese Websites, mithilfe derer man Kontakt zu Leuten aus der Schulzeit aufnehmen konnte. Sie wollte keine Höflichkeit heucheln und hatte Sorge, dass ihr Gesicht sie verraten könne: ihre Unsicherheit, ihre Angst und ihren Hass.
Einige Reihen vor ihnen stand eine große dunkelhaarige Frau. Sie hatte schimmerndes schulterlanges Haar und trug einen maßgeschneiderten dunkelgrünen Mantel. Kate starrte wie gebannt auf den Rücken der Frau und betete im Geiste, sie möge sich nicht umdrehen und zu ihr blicken, denn sie war sich beinahe sicher, dass es sich bei der Frau um Susan Sullivan handelte. Und die wollte Kate nie wiedersehen.
Kate versuchte, sich auf die Trauerfeier zu konzentrieren. Die Ansprache hielt ein Pfarrer, der Hattie offenbar nie begegnet war und der mit frappierend gefühlloser Stimme von einem Skript ablas, was für eine wunderbare Tochter und Freundin sie doch gewesen sei. Vorn in der Kirche war ein gigantisches, farbenprächtiges und doch zutiefst konventionelles Blumenarrangement aufgebaut: rote Rosen, weißes Schleierkraut und alles mögliche grüne Beiwerk. Rosemary Fox hatte erwähnt, dass die Beerdigung erst stattfinden könne, nachdem der Gerichtsmediziner Hatties Leiche freigegeben hätte. Kate fragte sich, ob Hatties Leiche dem Gerichtsmediziner überhaupt irgendwelche neuen Erkenntnisse liefern könne. Hattie war von einem Zug überfahren worden, ganz einfach. Und dann ertappte Kate sich bei der Überlegung, was wohl in dem Sarg wäre, wenn sie die eigentliche Beerdigung abhielten. Hatties Leiche. Was machten Bestatter mit einem Menschen, der von einem Zug in Stücke gerissen worden war? Kate würgte und hielt sich ein Taschentuch vor den Mund.
Wenn sie seitlich an der Kirchenbank vorbeilugte, konnte Kate einen Ausschnitt von Rosemarys Hinterkopf sehen. Soweit Kate erkennen konnte, schien Rosemary bewundernswert gefasst. Wie fühlte man sich, wenn man am Trauergottesdienst für die eigene Tochter teilnahm?
Die letzte Trauerfeier, die Kate besucht hatte, war die Beerdigung ihrer Mutter vor vier Jahren. Sie war mit Neil nach Spanien geflogen, zur Costa del Sol, an die ihre Mutter gezogen war, nachdem Kate das Haus verlassen hatte. Beim Trauergottesdienst hatte Kate so gut wie niemanden gekannt, nur Barry, den Lebensgefährten ihrer Mutter. Barry war ein sehniger, tätowierter Mann aus dem East End, der Shirley Small während ihres Kampfes gegen den Krebs liebevoll umsorgt hatte. Kate hatte nicht richtig trauern können. Ihre Mutter und sie hatten einander nie nahegestanden, waren eigentlich auch nie miteinander ausgekommen. Kate hatte ihr Zuhause verlassen, jung geheiratet, und ihre Mutter war nach Spanien gezogen, wo sie eine Bar eröffnete. Danach hatte jede ihr eigenes Leben geführt, in dem die andere nur eine sehr kleine Rolle spielte. Nach der Beerdigung hatte Kate bis spät in die Nacht mit Barry in der Bar ihrer Mutter gesessen und sich schrecklich betrunken. Neil hielt ihr das Haar aus dem Gesicht, als sie
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