Irgendwann ist Schluss
Achslastwaagen … Das beruhigte ihn ungemein. Und für Karl stand mittlerweile felsenfest: Er würde gewinnen. Denn er war im Recht. Wie seine Waagen. Scherper-Waagen hatten immer recht, an Richtigkeit unüberbietbar. Waage mit großem W will das Gegenteil von vage mit kleinem v. So lautete ein Spruch vom alten Scherper.
Ruben tauchte erst kurz vor der Urteilsverkündung auf. Es war der erste Tag, an dem Karl kein einziges Mal nach Alma schaute. Am Morgen nicht, weil er verschlafen hatte, und am Abend nicht, weil Karl alles vorbereiten wollte für den Zeitpunkt, für den Ruben sein Kommen angekündigt hatte. Doch auch dann, als alles vorbereitet war, ging Karl nicht zu Alma. Er setzte sich in den Sessel, schaute zur Uhr, hatte Angst, Rubens Klingeln nicht zu hören, wenn er oben war, bei Alma. Karl wartete. Und dann stand sein Sohn endlich in der Tür. Diese große, breite Statur. Ruben hatte ihm einmal erzählt, dass er Sport treibe. Basketball.
»Hallo, Vater«, sagte Ruben.
»Hallo, Ruben.«
Sie umarmten sich. Karl kann das nicht richtig. Wenn er jemanden umarmt, dann immer nur flüchtig, oberflächlich, wie ein Händedruck. Ruben aber nahm ihn fest in den Arm. Fester als sonst, schien Karl.
Ruben ging in die Wohnung. Und dann musste Karl seinem Sohn alles erzählen. Ruben hörte zu, und Karl dachte: Ich muss meinem Sohn nicht sagen, weshalb ich das alles getan habe. Er weiß es. Er weiß es genau. Und Ruben saß dort und schraubte sein Glas in den Händen und sah seinen Vater an, ein Lächeln auf den Lippen, und Karl dachte: Es ist alles so, wie ich es mir vorgestellt habe, es ist alles so, wie ich es mir erträumt habe, schöner noch, es ist alles in Erfüllung gegangen, es ist egal, ob ich den Prozess verliere oder gewinne, es ist vollkommen egal für Ruben, ich sehe es ihm an, er ist froh, dass ich etwas getan habe, er ist froh, dass ich endlich aus meinem Sessel aufgestanden bin, er ist stolz auf mich.
Aber irgendwann hatte Karl alles erzählt. Er war erschöpft, schaute Ruben an und sah, dass sein Sohn mit etwas rang.
Karl wurde nervös. »Halma?«, rief er.
Ruben nickte.
Jetzt fragte Karl Ruben nach seinem Leben in Amerika, aber irgendwann hatte auch Ruben alles erzählt und das Halmaspiel gewonnen. Da schaute Ruben seinen Vater an. Jetzt, dachte Karl, jetzt gleich wird er’s sagen. Tu’s nicht, dachte Karl. Tu’s nicht. Zwischen ihnen stand immer noch die alte Waage. Das Kilostück drückte die eine Seite nach unten. Die Halmafigur auf der anderen Seite hatte sich in all den Monaten nicht vom Fleck gerührt. Eine blaue Figur.
»Wie lange kannst du bleiben?«, fragte Karl seinen Sohn.
»Weiß nicht.«
»In drei Tagen ist die Urteilsverkündung.«
»Vater?«
»Ja?«
Und dann sagte Ruben: »Das mit der BILD -Zeitung, musste das sein?«
Karl blickte auf. Er verstand zunächst nicht, was Ruben gesagt hatte. Sein Mund öffnete sich. Er fühlte sich schwach. Er senkte die Augen. Sein Blick fiel auf die alte Waage. Bischoff hatte der Putzfrau verboten, die Spielfigur wegzunehmen. Die Figur sieht lustig aus, dachte Karl Bischoff jetzt, sie hat keine Beine, keine Arme, kein Gesicht, keine Haare, sie hat nur einen kleinen Kopf und einen blauen festen Umhang. Und dann nahm Karl Bischoff das Kilogewicht von der Waage und warf es mit ganzer Kraft in die Vitrine.
Als das Glas zersplitterte, war Alma schon tot. Niemand hatte es mitbekommen. Die Pflegerin war fort gewesen und Karl nicht mehr hochgegangen zu seiner Schwester, nachdem er Ruben rausgeworfen hatte. Erst am nächsten Morgen sah er nach ihr. Alma atmete nicht mehr. Ihr Gesicht war blau. Karl hatte gewusst, dass sie bald sterben würde. Schon nach dem vierten Prozesstag hatte er es gewusst. Er hätte sie begleiten müssen. Er hätte da sein können. Er hätte ihre Hand halten können, als sie den letzten Atemzug tat. Karl dachte: Sie ist genau an dem Tag gestorben, an dem ich zum ersten Mal nicht nach ihr geschaut habe, sie hat gedacht, jetzt ist er nicht da, jetzt mach ich die Biege. Karl deckte sie zu. Er schloss ihre Augen und versuchte, ihr die Hände zu falten. Sie waren steif. Er sah plötzlich, als er sich über seine Schwester beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab, ein Muttermal, das er noch nie gesehen hatte. Auf der rechten Stirnseite. Zwischen den Haaren. Solche Muttermale können wachsen, dachte er, solche Muttermale können plötzlich auftauchen. Er setzte sich neben Alma. Ein Gedanke nahm langsam Gestalt an: Man hat sie
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