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Irgendwann passiert alles von allein

Irgendwann passiert alles von allein

Titel: Irgendwann passiert alles von allein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Mattheis
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mit unzähligen Tätowierungen auf seinem nackten Oberkörper. Sein Schädel war kahl rasiert bis auf ein Büschel am Hinterkopf, das zusammengebunden in die Höhe ragte. »Ist Coconut«, sagte Leo.
    »Guck mal, die Berliner sind da«, sagte das Mädchen mit den Dreadlocks und winkte.
    »Berliner?«, fragte Leo.
    |144| »Wir kommen aus Berlin. Du musst sagen, dass wir aus Berlin sind«, flüsterte ich ihm zu und deutete auf Sam.
    Wir setzten uns zu den beiden und stellten uns vor. Das Mädchen mit den Dreads hieß Suse und ihre Freundin Julia. Julia ignorierte uns, sie sah einfach in eine andere Richtung.
    »Die Juli« – sie sagte »Tschuli« – »ist nicht so gut drauf, hat Stress mit ihren Eltern wegen Zeugnis und so. Aber wir sind eh bald weg.«
    »W-weg?«, fragte Sam. Es war das erste Wort seit Langem, das aus seinem Mund stolperte.
    »Wir fahren bald nach Indien. Gell, Juli?«
    Sie stupste ihre Freundin an und die nickte.
    »Berlin wäre natürlich auch toll. Wo wohnt ihr denn in Berlin?«
    Der Arm des halb nackten Tänzers sauste über meinen Kopf hinweg. Nahezu sein ganzer Oberkörper war mit irgendwelchen chinesischen Schriftzeichen und dämonischen Gesichtern bedeckt. Ehrlich gesagt war es mir ein bisschen unangenehm, dass er so nah um uns herum tanzte, aber ich sagte ihm das natürlich nicht.
    »Wie meinst du: Wo in Berlin?«, fragte ich.
    »Na, in welchem Viertel? Kreuzberg oder wo?«
    » K-Kreuzberg «, sagte Sam.
    »Kreuzberg«, wiederholte ich.
    »Ja, Kreuzberg«, sagte Leo.
    »Kreuzberg finde ich so toll! Für euch ist es hier wahrscheinlich unglaublich langweilig. München ist ja so spießig.«
    |145| »Scheiß München, scheiß Bayernbullenstaat«, sagte Julia.
    Leo fragte die beiden, was sie in Indien wollten. Suse sagte, dass ihr Vater so eine Art Hippie sei und dort mit anderen Hippies ein Haus am Strand habe, und dann fing Suse an, wirklich viel zu reden. Es war so viel und ging so schnell, dass ich nur einzelne Wörter verstand: »Meer«, »Ganesha«, »Gandhi« und »Goa« kamen vor. Nur irgendwann sagte Suse den Satz: »Dort haben die Menschen nichts und sind trotzdem glücklich!«
    »Ist es billig in Indien?«, fragte Leo.
    »Oh, es ist wahnsinnig billig. Du kannst da für zehn Mark am Tag leben wie ein König!«
    »Zehn Mark am Tag?!«
    »Ja, wirklich! Dort lebt man wie ein kleiner König.«
    Coconuts Fuß stampfte auf meine Finger. Ich schreckte hoch und blickte zu ihm hinauf, in der Erwartung, eine Entschuldigung wenigstens in Form einer kleinen Handbewegung zu erhalten, doch er wirbelte bereits an anderer Stelle herum. Leo hatte mittlerweile eine Handvoll Gras aus seinem Beutel herausgeholt und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, was zur Akzeptanz unserer Anwesenheit in diesem Kreis ganz erheblich beitrug. Suse redete über indische Gottheiten, was bei Leo und Sam immer wieder interessiertes Nicken hervorrief. Aber Sam nickte ja ohnehin permanent. Er trug noch immer seine Sonnenbrille. Ich setzte mich ein wenig abseits der vier auf die steinernen Stufen zwischen zwei Kerzen, weil mir Suse mit ihrem Indien-Gelaber irgendwie auf die Nerven ging.
    |146| Ich lehnte mich gegen eine Säule und spielte mit dem Inhalt meiner Hosentaschen. Wieder betastete ich das raue Bündel aus Geldscheinen und genoss das Gefühl. Ich hatte noch etwas anderes aus dem Haus bei mir. Ich trug es seit unserem letzten Einbruch mit mir herum und hatte mich nicht getraut, einen Blick darauf zu werfen. Jetzt, unter dem klaren Nachthimmel, zog ich die zwei Briefe aus meiner hinteren Hosentasche. Beide Umschläge waren zerknittert und geknickt, ein bisschen eklig, weil klebrig, und auf einem prangten die braunen Umrisse einer Kaffeetasse. Ich öffnete ihn und begann zu lesen. Er war, anders als der erste Brief, nicht mit einer Schreibmaschine verfasst, sondern mit Hand geschrieben, und zwar in so alter Schrift, dass ich anfangs Probleme hatte, sie überhaupt zu entziffern.
     
    Sehr geehrter Herr Dr.   Dommüller,
     
    es ist nun an der Zeit, dass etwas unternommen werden muss. Es ist Krieg. Gertrud ist ganz fertig mit den Nerven. Sie zittert wie Espenlaub. Der Doktor sagt, es sei der Krebs. Doch ich kenne die Wahrheit: Gestern habe ich die Utzschneiderin und die andere gesehen, wie sie vor unserem Grundstück herumschlichen. Sie trug eine Flasche bei sich, auf die ein Totenkopf gemalt war. Herr Dr.   Dommüller, Sie müssen uns glauben! Unsere Vorräte sind vergiftet. Sie haben uns das Essen vergiftet! Ich

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