Irgendwo dazwischen (komplett)
mich in solchen Momenten auf mein Bett und schaue alte Fotos
an. Fotos aus Zeiten, als Elias einfach nur Elias war, und wir beide glücklich.
Inzwischen brauche ich diese Fotos, um mich überhaupt daran erinnern zu können.
So viel von dem, was gut war, ist weg. So viel von dem, was ich brauche, wird
ignoriert oder übersehen. Manchmal frage ich mich, seit wann es nicht mehr gut
ist. Aber ich weiß es nicht. Es kam so schleichend. Er hatte immer ein bisschen
weniger Zeit, war immer ein bisschen weniger aufmerksam. Und irgendwann habe
ich erkannt, dass er mir fremd geworden ist. Ganz plötzlich. Ich erinnere mich
noch, dass ich in dem Moment, als es mir klar wurde, gerade gebügelt habe.
Nebenher habe ich einen Film angesehen. Und in diesem Film war ein Mann, der so
sehr damit beschäftigt war, an seiner Karriere zu feilen, dass er vollkommen
vergessen hat, dass es noch etwas anderes gibt. Seine Frau verlässt ihn,
nachdem er sie jahrelang nicht gesehen hat. Und erst als sie weg ist, wird ihm
klar, dass er alles verloren hat, was ihm wirklich wichtig war. Er wollte eine
Familie. Er wollte seine Frau glücklich machen. Aber da war keine Familie, weil
er nie mit seiner Frau geschlafen hat. Und es gab keine Frau mehr, vielleicht
weil er nie mit ihr geschlafen hat. All die Reizwäsche hat nichts gebracht.
Gespräche wurden sinnlos, Versprechungen gebrochen. Und dann eines Tages findet
er einen Zettel am Kühlschrank, auf dem sie ihm schreibt, dass sie ihn
verlässt. Und in dem Moment wurde es mir schlagartig klar. Das war mein Leben.
Und an jenem Abend redete ich zum ersten Mal mit Elias über meine Empfindungen.
Ich erzählte ihm von dem Film und dass ich mich in ihrer Rolle wiedergefunden
habe. Er weint. Er entschuldigt sich. Er schläft mit mir. Und dann verspricht
er mir, dass sich das ändern wird. Und da fing es an, dass Gespräche sinnlos
wurden und Versprechungen gebrochen.
Marie
„Ich gehe
schnell noch etwas einkaufen.“ Ich stehe auf einem kleinen, wackeligen Schemel.
„Warte
mal“, brumme ich aus der Kammer. Ich höre, wie sich seine Schritte langsam
nähern.
„Ist alles
okay?“, fragt er, als er die Türe vorsichtig öffnet.
„Ja,
schon...“ Mein Tonfall klingt anders als okay. Er streckt den Kopf durch den
Spalt in der Tür. „Kannst du mir noch schnell die zwei Schachteln von da oben
runterholen?“ Ich zeige auf zwei alte, zerbeulte Schuhkartons.
„Sicher.“
Er stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt mir erst den einen, dann den
anderen. „Hier“, sagt er lächelnd. „Kann ich dir sonst noch helfen?“
Ich
schüttle den Kopf. „Nein, aber danke.“ Er streichelt sanft über meine Wange,
dann verschwindet er im Flur. Dass ich auch jeden Mist aufheben muss. Jedes
Zettelchen, jede Postkarte, jede Kleinigkeit meiner Vergangenheit. So als wäre
sie dann weniger vergangen. So als könnte ich sie mit all den Zettelchen und
Postkarten überlisten und behalten. Und im Endeffekt landen dann all die
Erinnerungen in Schachteln. Die Erinnerungen werden erst eingesperrt, und dann
verstauben sie.
Ich nehme
die beiden Kartons und gehe ins Schlafzimmer. Vielleicht sollte ich sie einfach
in den Müll werfen. Vielleicht sollte ich nicht hinein schauen. Denn wenn ich
das tue, dann behalte ich ja doch wieder alles. Lange schaue ich die Schachteln
verächtlich an. Dann seufze ich und öffne den Deckel des kleineren Kartons.
Unzählige Zettelchen, Briefe, Postkarten, ein Paar Geldstücke, zwei
Tagebücher... Ich greife nach einer hellblauen Karte. Es ist eine
Geburtsanzeige. Auf der Vorderseite ist das Foto eines winzig kleinen
Säuglings. Er trägt einen winzig kleinen, gelben Strampelanzug. Die Hände sind
zu klitzekleinen Fäusten geballt, die Augen geschlossen. Feiner, blonder Flaum
bedeckt den kleinen Kopf. Das winzige Gesichtchen ist vollkommen entspannt. Auf
den Strampelanzug ist ein roter Bus aufgenäht. Unter dem Foto steht in
verschnörkelter Schrift Vincent Samuel und ein Nachname, den ich nicht
aussprechen kann. Unter dem Namen steht ein Geburtsdatum. Vincent Samuel ist
ein kleiner Widder. Ich schlage die Karte auf. Auf der rechten Innenseite ist
noch ein Foto. Joakim umarmt Emma, Emma hält Vincent in den Armen. Beide
strahlen. Das auf diesem Bild ist greifbares Glück. So etwas schmeißt man doch
nicht weg.
Ich weiß
noch genau, dass ich unbeschreiblich gerührt war, als ich diese Karte vor drei
Jahren bekommen habe. Gerührt, und vielleicht auch ein bisschen eifersüchtig.
Und
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