Irgendwo ganz anders
Widerspruch und fing an zu lesen. Sie hatte eine gute Vorlesestimme und begann rasch zu verblassen. Hastig griff ich nach ihrem Ärmel, um nicht zurückgelassen zu werden. Sofort erschien sie wieder in ihrer körperlichen Gestalt, dafür verblasste jetzt die Bibliothek. Nach wenigen weiteren Worten befanden wir uns im Inneren des gewählten Buches. Das Erste, was mir auffiel, war die Tatsache, dass die Füße der Hauptfigur brannten. Und was noch schlimmer war: Sie hatte die Flammen noch nicht mal bemerkt.
7.
Pinocchio wird überprüft
Obwohl die Idee, Fußnoten zur Kommunikation zu benutzen, bereits im Jahre 1622 von Dr. Faust ins Spiel gebracht wurde, sollte es bis 1856 dauern, bis das erste funktionierende Fußnotofon vorgestellt werden konnte. Im Jahre 1915 wurde mit großem Pomp die erste gattungsüberschreitende Verbindung zwischen Krimi und Menschlicher Tragödie eröffnet, und seither ist das Netz ständig erweitert und verbessert worden. Perfekt ist das System aber noch lange nicht: In vielen Büchern gibt es nach wie vor nur ein einziges öffentliches Fußnotofon und in den Außenbezirken der BuchWelt gibt es nach wie vor zahllose Bücher, die überhaupt noch nicht ans Netz angeschlossen worden sind.
Es war natürlich Pinocchio. Diese Nase war einfach nicht zu verkennen. Als wir in die Spielzeugwerkstatt auf Seite sechsundzwanzig hineinsprangen, schlief die berühmte, von Meister Geppetto bzw. Collodi geschaffene Holzpuppe mit den Füßen im Feuer einer Kohlenpfanne. Die Werkbank war sauber und aufgeräumt. Halbfertiges Holzspielzeug füllte jeden Winkel des Raumes, und das Werkzeug hing ordentlich an der Wand. In der Ecke war eine Pritsche, daneben eine Kommode. Der Boden war mit lockigen Spänen bedeckt, aber man sah keinen Schmutz. Das war typisch für die fiktionale Welt: Die Erzählung war eine Art Kurzschrift, in der kein Platz für den Schmutz und die Zufälligkeiten der wirklichen Welt war.
Pinocchio schnarchte laut, während seine Füße verbrannten. Es war beinahe komisch. In wenigen Zeilen würde es Morgen sein, und er würde nur noch verschmorte Beinstümpfe haben. Er war nicht die einzige Person im Raum. Auf der Kommode saßen zwei Grillen und sahen sich das internationale Eintagesrennen im Fernsehen an. Die eine trug einen Frack und einen Zylinder und hielt eine silberne Zigarettenspitze in ihrer Hand. Die andere hatte ein Gipsbein, ein blaues Auge und einen gebrochenen Fühler.
»Mein Name ist Thursday Next«, verkündete ich und hielt meine Jurisfiktion-Dienstmarke hoch. »Und das ist ... äh, Thursday Next.«
»Welche von euch ist die echte?«, fragte die Grille mit dem Zylinder – ein wenig taktlos, wie es mir schien.
»Ich natürlich«, sagte ich mit zusammengepressten Zähnen. »Sieht man das nicht?«
»Ehrlich gestanden, nein«, sagte die Grille und sah uns abwechselnd an. »Welche von euch macht denn Yoga ohne was an?«
»Das bin ich«, sagte Thursday5 munter.
Ich stöhnte.
»Was ist denn?«, fragte sie und schaute mich verdutzt an. »Sie sollten es auch mal probieren. Es ist sehr entspannend und anregend.«
»Ich mache kein Yoga«, sagte ich.
»Wenn Sie gleich damit anfangen und dafür die Schinkenbrötchen weglassen, wird das Ihr Leben mindestens um zehn Jahre verlängern.«
Die Grille, die mit einem knappen Noel-Coward-Akzent sprach, schaltete den Fernseher aus und sagte: »Wissen Sie, wir kriegen nicht viele Besucher hier. Die letzten, die hier vorbeigekommen sind, waren vom Italienischen ÜbersetzungsInspektorat. Sie haben kontrolliert, ob wir den Geist des Originals bewahrt haben.«
Plötzlich fiel der Grille im Frack etwas ein. »Verzeihung«, sagte sie. »Ich bin schrecklich unhöflich.« Sie zeigte auf ihren Kumpan und sagte: »Das ist Jim ›Bruises‹ McDowell, mein Stunt-Double.«
Bruises sah aus, als hätte der Stunt mit dem Vorschlaghammer nicht richtig geklappt.
»Guten Tag«, sagte die Stunt-Grille mit einem verlegenen Schulterzucken. »Ich hatte einen Trainingsunfall. Irgendein Idiot hat die Sprungmatte weggeschoben.« Während sie das sagte, warf sie der anderen Grille einen vielsagenden Blick zu, aber die zog bloß an ihrer Zigarette und bürstete nonchalant ihre Fühler.
»Es tut mir leid, das zu hören«, sagte ich höflich. Gute Beziehungen zu den Bewohnern der BuchWelt waren unerlässlich bei unserer Arbeit. »Sind Sie kürzlich gelesen worden?«
Die Grille mit dem Zylinder sah plötzlich sehr verlegen aus. »Um ganz ehrlich zu sein ...«,
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