Irgendwo ganz anders
Ideen und Bildern. Hat dir einer deiner Ausbilder wenigstens ungefähr erklärt, wie das Autor/Leser-Ding funktioniert?«
»Ich glaube, an dem Tag hatte ich eine Darmspülung.«
Ich trat näher an die Regale und winkte ihr, mir zu folgen. Schon als ich noch etwa einen Meter von den Büchern entfernt war, spürte ich, wie ihre Wärme mich einhüllte. Aber es war keine gewöhnliche Wärme, sondern die Energie einer gut erzählten Geschichte. Sie hüllte die Bücher ein wie der Morgennebel, der über dem Fluss liegt. Ich spürte die Emotionen, hörte leise Gesprächsfetzen und sah einzelne Bilder, die sich für Augenblicke aus der Schwerkraft der Geschichte gelöst hatten.
»Spürst du das?«, flüsterte ich.
»Was soll ich spüren?«
Ich seufzte. Fiktionäre waren nicht so auf Geschichten eingestellt wie menschliche Leser. Kaum ein Bewohner der BuchWelt las je ein Buch – wenn es die Handlung nicht zufällig vorschrieb.
»Leg mal deine Hände ganz sacht auf die Buchrücken.«
Sie tat wie ihr geheißen, und nach einem Augenblick der Verwirrung begann sie zu lächeln. »Ich höre Stimmen«, flüsterte sie. »Und einen Wasserfall. Da sind Freude und Verrat und Gelächter – und ich sehe einen jungen Mann, der seinen Hut verloren hat.«
»Was du da spürst, ist die rohe ÜbertragungsEnergie, die Kraft, mit der die Vorstellungen und Ideen in die Köpfe der Leser gebracht werden. Diese Bücher hier sind lebendig , jedes ist ein kleiner, in sich geschlossener Kosmos. Die Bücher, die wir im Außenland haben, sind leider nicht so energiegeladen, sie sind eigentlich nur Abbilder der Originalbücher hier. Trotzdem können wir damit etwas von der hier vorhandenen Kraft auf die Leserinnen übertragen.«
Thursdays nahm die Hände von den Buchrücken weg, um auszuprobieren, wie weit sie sich entfernen konnte, ehe die Energieströmung aufhörte. Es waren nur ein paar Zentimeter.
»Haben die Textsiebe etwas damit zu tun?«
»Nein. Ich muss für Bradshaw etwas überprüfen. Da können wir auch mal in die KernKammer gehen, das eigentliche Herz der Übertragungstechnologie.«
Wir gingen ein paar Schritte den Gang hinunter, und nachdem ich mir noch einmal den Zettel angeschaut hatte, den mir Bradshaw gegeben hatte, zog ich eins der Bücher aus dem Regal. Es war eine von zahllosen anderen Ausgaben desselben Titels, die sich daneben befanden. Ich schlug den Band auf und betrachtete die Statistik auf der inneren Seite des Umschlags. Sie zeigte mir die aktuelle Leserzahl in Echtzeit, die Zahl der im Außenland noch vorhandenen Exemplare und vieles andere mehr.
»Die ledergebundene Luxusausgabe des Buchklubs aus dem Jahre 1929«, sagte ich. »Von den zweitausendfünfhundert gedruckten sind nur noch neun Exemplare in Umlauf. Gegenwärtig werden sie von niemandem gelesen. Der ideale Gegenstand für eine kleine Nachhilfestunde.«
Ich wühlte in meiner Tasche herum und zog eine Signalpistole heraus.
Thursday5 sah mich ängstlich an. »Erwarten Sie Ärger?«
»Ich rechne immer mit Ärger.«
»Ist das nicht ein TextMarker?«, fragte sie. Ihre Verwirrung war verständlich, denn TextMarker waren eigentlich gar keine Waffe. Im Allgemeinen wurden sie nur benutzt, um den Text eines Buches von innen zu markieren, damit ein Agent im Notfall gefunden und evakuiert werden konnte. Früher waren sie unentbehrlich, aber im Zeitalter der mobilen Fußnotofone wurden sie nicht mehr so dringend gebraucht.
»Das war mal ein TextMarker«, sagte ich. »Aber ich habe ihn ein bisschen modifiziert. Jetzt kann ich auch einen Eraserhead einlegen.«
Ich schob die Patrone in den Lauf, ließ die Waffe wieder zuschnappen und steckte sie in meine Tasche zurück. Der Eraserhead war nur eins der praktischen Dinge, die JurisTech für uns entwickelt hatte. Er war dafür geschaffen worden, um die Adhäsion zwischen den Buchstaben eines Wortes aufzulösen. Gegenüber jedem Wesen von textlichem Ursprung war er eine tödliche Waffe. Ein Schuss genügte, um den Getroffenen in einen Haufen unzusammenhängender Buchstaben und ein bisschen blauen Rauch zu verwandeln. Der Gebrauch wurde streng kontrolliert, der Eraserhead durfte nur von JurisfiktionAgenten benutzt werden.
»Uih!«, sagte Thursday5, nachdem ich es ihr erklärt hatte. »Ich trage überhaupt keine Waffe.«
»Ich würde auch lieber keine mitnehmen müssen«, sagte ich und gab ihr das Buch. »So, und jetzt lass mal sehen, ob du einen Passagier beim Buchspringen mitnehmen kannst.«
Sie nahm das Buch ohne
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