Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
gibt kein Gehirn. Die Summe aller Teile vereinigt sich zu einem einzigen Denken.«
»Bienen und Ameisen haben Königinnen«, gab Adler zu bedenken.
Nikola maß ihn mit einem widerwillig-anerkennenden Blick, schüttelte aber trotzdem den Kopf. »Das ist etwas anderes. Diese Königinnen sind im Prinzip nur für die Fortpflanzung zuständig, aber das scheint mir in diesem Fall anders zu sein.«
»Sie meinen, diese … Entität … besteht aus Tausenden einzelner Teile, die in ihrer Gesamtheit so etwas wie ein großes Gehirn bilden«, sagte Adler nachdenklich, was ihm nicht nur einen noch überraschteren Blick von Nikola einbrachte, sondern auch Chips Stimme noch einmal hinter meiner Stirn erschallen ließ. Wir sind viele.
»So könnte man es ausdrücken«, bestätigte Nikola.
»Wenn das stimmt, dann bedeutet das, dass alle alles wissen, was auch nur ein einzelnes dieser Teile weiß«, schloss Adler nachdenklich.
Ich war wirklich beeindruckt, erteilte mir zugleich aber in Gedanken eine weitere Rüge. Ich konnte Adler nicht leiden, aber das bedeutete nicht, dass er dumm war.
Nikola wirkte ebenfalls leise überrascht, schüttelte aber auch jetzt den Kopf. »Nicht zwangsläufig. Der Verdacht liegt nahe, das gebe ich gerne zu, aber so muss es nicht sein.«
»Weil wir dann ohnehin keine Chance mehr hätten«, fügte Adler hinzu. »Denn dann wüssten sie jetzt alles, was wir in Miss Carters Gegenwart besprochen haben.« Er legte den Kopf auf die Seite und betrachtete den Verband an Nikolas Hals. »Und Ihrer.«
»Die Möglichkeit besteht«, räumte Nikola unbeeindruckt ein. »Aber ich glaube es nicht.«
»Weil es nicht in Ihre Theorie passt?«
»Weil wir ebenso gut auch gleich aufgeben können, wenn es wirklich so ist«, sagte Nikola ruhig. »Aber auch, weil mir gewisse Beobachtungen Anlass zu der Vermutung geben, dass es doch nicht ganz so einfach ist. Ich nehme an – oder ich hoffe, das können Sie sich aussuchen, Captain –, dass es zumindest eines einmaligen …« Er suchte nach Worten und hob schließlich die Schultern. »… Austausches bedarf, um die Verbindung zu vollenden.«
»Was meinen Sie mit Austausch?«, fragte Adler misstrauisch.
»Abgesehen von Quinn bin ich der Einzige, dessen körperliche Erscheinungsform sie noch nicht adaptiert haben«, sagte Nikola. »Ich nehme an, dass die Verbindung deshalb noch nicht komplett ist.«
»Und wieso … nehmen Sie das an?«
Nikola lächelte schmerzlich. »Weil alles andere bedeuten würde, dass wir schon verloren haben«, gestand er. »So etwas nennt man Zweckoptimismus.«
»Ich nenne so etwas ziemlich verrückt«, sagte Adler finster.
»Und wie lange wollen Sie dieses Spielchen noch treiben?«
»Das kommt ganz darauf an, wie lange Sie brauchen, um die Dinge zu besorgen, die ich Ihnen aufgeschrieben habe, Captain«, antwortete Nikola. Er hielt Adler seinen Zettel hin und erntete genau den fast schon mitleidigen Blick, mit dem ich gerechnet hatte. Adler rührte keinen Finger, um danach zu greifen. Nikola seufzte, warf Watson einen beinahe flehenden Blick zu und seufzte noch einmal, diesmal lauter. Watson klappte den Deckel seiner Taschenuhr auf und starrte die Zeiger an, und endlich geschah das, worauf Watson (und wahrscheinlich auch Nikola) schon sehnlichst warteten, seit wir hereingekommen waren: Das Telefon erwachte mit einem schrillen, mehrmalig unterbrochenen Klingeln zum Leben, und Watson riss den Hörer von der Gabel. Er wechselte hastig ein paar Worte mit der jungen Frau in der Vermittlungsstelle, die daraufhin den Gesprächspartner durchstellte.
»Watson?«, meldete er sich, schwieg einen Moment und nickte dann mehrmals hintereinander. »Oh nein, das macht doch nichts … ich weiß, wie schwierig es … aber ja, selbstverständlich …«
Es war nicht das erste Mal, dass ich einen Telefonapparat in Aktion erlebte. Ganz im Gegenteil war mir klar, dass diese moderne Art der Kommunikation nicht nur nicht mehr aufzuhalten war, sondern die Welt in naher Zukunft radikal verändern würde. Aber es verhielt sich damit wie mit Jacobs’ heiß geliebten Automobilen und den elektrifizierten Straßenbahnen: Ich wusste ihren praktischen Nutzen durchaus zu würdigen, aber sie erschreckten mich auf einer Ebene, die nichts mit Logik zu tun hatte und somit auch nicht damit zu bekämpfen war. An diesen modernen Telefonapparaten irritierte mich am meisten, dass man nur die Hälfte des jeweiligen Gespräches mitbekam; diese dafür aber zumeist so laut, dass man sich
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