Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)
führen konnte, hörte ich jemanden meinen Namen rufen.
Überrascht sah ich über die Schulter zurück und entdeckte Allison nur einen halben Steinwurf entfernt auf der obersten Stufe einer kurzen Eisentreppe, die zu einer wuchtigen Pförtnerloge hinaufführte. Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, um die Menge noch weiter zu überragen, und winkte mir fröhlich zu. Neben ihr stand ein ältlicher Mann in derselben einschüchternden Uniform wie die Wachleute, auch wenn er darin eher lächerlich aussah.
Ganz so lächerlich war er dann aber wohl doch nicht, denn der Wachmann, der gerade noch dazu angesetzt hatte, mich bei lebendigem Leibe zu häuten und aufzufressen, machte nun ganz im Gegenteil eine entsprechende Geste und eskortierte mich wortlos durch die Menge, bis wir die Treppe erreicht hatten.
Allison kam mir schon auf halber Strecke entgegen und zeigte sich von der erschöpften Menge ringsum völlig unbeeindruckt, genau wie von den gierigen Blicken und dem einen oder anderen schrillen Pfiff, den ihr die Arbeiter zollten. Ich war fast ein wenig erstaunt, hatte ich doch fest damit gerechnet, mir einen neuen Vortrag über die geknechtete Arbeiterklasse anhören zu müssen. Vielleicht hatte ja auch die eine oder andere anzügliche Bemerkung, die sich in die bewundernden Pfiffe mengte, ihrer Loyalität der benachteiligten Klasse gegenüber einen kleinen Dämpfer versetzt.
»Quinn, wie schön, dass Sie da sind! Ich hatte schon ein wenig Angst, dass Sie doch nicht …« Sie stockte. »Um Himmels willen! Was ist mit Ihrem Gesicht passiert?«
Sie tastete mit spitzen Fingern über meine Wange, und obwohl sie sehr vorsichtig war, musste ich eine gequälte Miene nicht schauspielern. »Es ist noch da«, sagte ich in humorvollem Ton.
»Ja, und sogar deutlich mehr davon als noch gestern«, antwortete Allison, allerdings auf eine Art, die die scherzhafte Wortwahl Lügen strafte und mich nebenbei fragen ließ, ob die misstrauischen Blicke der Wachmänner nicht vielleicht einen ganz anderen Grund gehabt hatten. »Sie sehen aus, als wären Sie verprügelt worden!«
»Jetzt haben Sie mich erwischt«, gestand ich mit gespielter Zerknirschung. »Ich habe Ihnen doch von diesem chinesischen Halunken erzählt, an dessen Schädel ich mir die Hand verletzt habe. Wie es scheint, hatte er noch eine Menge Verwandte.«
»So wie Sie aussehen, müssen es so ungefähr alle Chinesen gewesen sein«, bestätigte Allison finster.
»Das täuscht.« Ich winkte großspurig ab. »Sie sollten die anderen erst mal sehen.«
»Ich verstehe.« Allisons Stirn umwölkte sich. »Sie wollen nicht darüber reden. Aber vielleicht haben Sie ja recht, und es geht mich nichts an.«
Ich konnte mich nicht erinnern, etwas Derartiges gesagt oder auch nur angedeutet zu haben, doch ich hielt es für klüger, das Thema zu wechseln. »Haben Sie schon mit Nikola gesprochen?«
Allison sah geschlagene fünf Sekunden lang einfach nur weiter mein geschwollenes Gesicht an und schien zu überlegen, ob ich einer Antwort überhaupt würdig sei, doch dann schüttelte sie knapp den Kopf und deutete auf den Pförtner, der noch immer auf halber Höhe der Treppe stand und ganz und gar nicht sicher zu sein schien, was er von mir halten sollte.
»Nein. Aber er hat entsprechende Anweisungen hinterlassen, wie er es versprochen hat. Man wird uns zu ihm bringen. Das ist doch so, Mister Roberts, nicht wahr?«
Die letzten Worte hatte sie über die Schulter nach oben gerufen, und der Mann reagierte auch sofort mit einem Nicken, rührte sich aber nicht von der Stelle, sondern hob nur die Hand und wandte sich an den Wachmann, der mich hergebracht hatte.
»Du hast die Lady gehört, Henry! Bring sie und ihren Begleiter zum Professor. Und pass auf, dass sie sich nicht verlaufen.«
Und was sollte ich nun wieder davon halten?
Ich überlegte, ob es sich lohnte, zornig zu werden. Allison nahm mir die Entscheidung ab, indem sie dem Wachmann einen fragenden Blick zuwarf und dann losging, als er in eine bestimmte Richtung deutete. Vielleicht sollte ich doch zornig werden.
Ich hatte mich nur noch nicht entschieden, auf wen.
Ich verscheuchte den Gedanken und sah mich stattdessen aufmerksam und auch ein wenig neugierig um, wie ich mir selbst eingestand. Wie die allermeisten Bewohner dieser Stadt hatte ich zwar schon nahezu alles gelesen und gehört, was es über die Titanic zu lesen und zu hören gab, das gewaltige Schiff aber noch nie mit eigenen Augen gesehen, und so war Allison auch
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