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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nicht die Einzige gewesen, die sich insgeheim darauf gefreut hatte, es zu besichtigen.
    Im allerersten Moment sah ich allerdings so gut wie nichts, abgesehen von zwei noch nicht ganz fertiggestellten Schornsteinen von wahrhaft zyklopischen Ausmaßen, die in schrägem Winkel über das Dach einer der zahlreichen Werkhallen ragten, die diesseits des Zaunes fast so etwas wie eine eigene kleine Stadt bildeten. Ich hatte gewusst, dass die Werft groß war, aber nun begriff ich, dass das nicht stimmte. Sie war gigantisch. Selbst die Massen der Arbeiter, die uns noch immer aus allen Richtungen entgegenströmten, erschienen mir mit einem Male verloren und viel zu klein, um dieses gewaltige Areal auch nur mit dem Anschein von Leben zu erfüllen.
    Dann fiel mir etwas auf. »Ich dachte, wir gehen auf das Schiff«, wandte ich mich an unseren Führer.
    Der Wachmann deutete auf eine lang gestreckte Halle mit zum Teil verglastem Dach, die trotz ihrer beachtlichen Ausmaße winzig zwischen den anderen Gebäuden hier wirkte. »Ich soll Sie zum Professor bringen«, sagte er in einem Ton, der mich davon abhielt, eine weitere Frage zu stellen.
    Außerdem gab es auch ohne die Titanic genug Interessantes zu sehen. Längst nicht alle Arbeiten fanden in den riesigen Hallen oder an Bord des gewaltigen Schiffes statt, das schon in wenigen Wochen vom Stapel laufen sollte. Überall wurde gehämmert, gearbeitet und gewerkelt, Kommandos und Flüche flogen hin und her, Männer eilten hektisch umher, und ich beobachtete hundert Dinge, die ich nicht verstand, die mich aber ausnahmslos faszinierten. Ich sah riesige Maschinen, deren Sinn mir verborgen blieb, an denen Nikola aber seine helle Freude haben musste, gewaltige Konstruktionen aus Holz und Eisen, auf denen noch gewaltigere Bauteile transportiert wurden, und monströse schnaubende Dampfmaschinen, die noch riesigere Hämmer oder Sägen mit handlangen stählernen Zähnen antrieben oder auch gar nichts zu tun schienen, außer zu lärmen und die Luft zu verpesten, und weitere zahllose technische Wunder.
    Am meisten faszinierte mich eine Gruppe Männer, die mit etwas beschäftigt waren, das mir zunächst eher wie eine Jahrmarktsattraktion vorkam oder wie ein Spiel zu groß geratener Jungen: Einer von ihnen trug einen schweren eisernen Bottich voller rot glühender Bolzen, über dem die Luft flirrte. Obwohl er mindestens einen Zentner wiegen musste, hielt der Mann ihn mühelos mit nur einer Hand, in der anderen trug er eine langstielige eiserne Zange, mit der er scheinbar sinnlos herumzufuchteln schien. Auf den zweiten Blick wurde klar, dass es nicht ganz so sinnlos war, denn von Zeit zu Zeit angelte er einen der zischenden Bolzen aus dem Eimer und schleuderte ihn mit einer schnappenden Geste aus dem Handgelenk in Richtung eines allerhöchstens zwölf- oder dreizehnjährigen Jungen, der in einiger Entfernung dastand und sie mit einer eigenen, deutlich kleineren Zange aufzufangen versuchte. Meistens gelang ihm das auch. Der Anblick war so bizarr, dass ich unwillkürlich stehen blieb, um zuzusehen.
    »Was bedeutet das?«, fragte ich.
    »Das sind Nieter«, sagte der Wachmann und lachte leise, schüttelte zugleich aber auch den Kopf und verzog abfällig die Lippen. »Wenigstens wollen sie das irgendwann einmal werden. Der Bursche da übt noch. Aber er ist nicht gut. Er wird es nicht schaffen.«
    Tatsächlich schnappte die Zange des Jungen genau in diesem Moment ins Leere, sodass er sich mit einem hastigen Hüpfer in Sicherheit bringen musste, um nicht von dem rot glühenden Geschoss getroffen zu werden. Etliche Männer kommentierten sein Missgeschick mit schadenfrohem Gelächter. Den Ehrgeiz des Jungen schien das jedoch eher noch anzustacheln, denn den nächsten Bolzen fing er dafür mit umso größerem Geschick aus der Luft.
    Ich applaudierte. Es war ehrlich gemeint. »So schlecht ist er doch gar nicht.«
    »Ja, manchmal schafft er es«, sagte Allison, allerdings mit finsterem Gesicht und in vorwurfsvollem Ton. »So sind Kinder nun einmal. Sie tun alles, um uns zu gefallen und unsere Erwartungen zu erfüllen. Und wenn nicht, dann trifft ihn eben so ein Ding, und er geht mit einer Brandverletzung nach Hause. Manchmal versuchen sie auch, sie mit der Hand aufzufangen. Aber es sind ja nur Kinder. Davon gibt es genug. Und sie wachsen von selbst nach, nicht wahr?«
    »Es ist gut«, sagte ich. »Ich habe es verstanden.« Das hatte ich tatsächlich. Auf den zweiten und etwas genaueren Blick sah der Junge schon

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