Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
eingeengt ist auf dieses Thema, wenn er keine Zukunftsplanungen mehr entwickelt, wenn er nichts und niemanden mehr nennen kann, wofür es sich zu leben lohnt, wenn er schon Suizidfantasien hat, dann ist die Gefahr groß. Auch wenn in der Familie oder im Freundeskreis Suizide bekannt sind und vor allem, wenn er selbst schon einmal einen Suizidversuch unternommen hat, ist die Hemmschwelle niedriger. Entscheidend für das weitere Vorgehen ist dann aber, ob es gelingt, eine therapeutische Beziehung aufzubauen und auf deren Grundlage einen »Vertrag«
mit dem Patienten zu schließen, dass er sich wenigstens während der Behandlung nichts antut. Wenn ein Patient auf diese Weise »vereinbarungsfähig« ist, dann kann er in seltenen Fällen sogar ambulant, in jedem Fall aber auf einer offenen psychiatrischen Station behandelt werden.
Ist der psychisch kranke Patient schwer suizidal, aber nicht vereinbarungsfähig und auch nicht behandlungsbereit, so muss man in einem solchen Fall zum Schutz des Patienten eine Zwangseinweisung auf eine geschlossene Station gegen den Willen des Patienten organisieren. Die Ordnungsbehörde bzw. die Polizei kann das unmittelbar mit dem entsprechenden Gutachten eines approbierten Arztes. Mittel- und längerfristig muss ein Richter einer solchen freiheitsberaubenden Maßnahme zustimmen. Die Einleitung einer Einweisung gegen den Willen des Patienten fällt vor allem Angehörigen verständlicherweise sehr schwer, aber man muss darauf hinweisen, dass in fast allen Fällen die Patienten ihren Angehörigen oder anderen an dieser Einweisung beteiligten Stellen im Nachhinein, wenn sie wieder gesund sind, herzlich dankbar sind, dass sie ihnen das Leben gerettet haben. Denn genau darum geht es. Es gibt nicht bloß lebensrettende Operationen, es gibt auch lebensrettende Zwangseinweisungen. Dabei sind nicht die Sicherungsmaßnahmen das Entscheidende, sondern die verlässliche therapeutische Beziehung und die gute fachliche Behandlung der zugrunde liegenden psychischen Erkrankung. Doch ohne die Zwangseinweisung hätte eine solche Behandlung gar keine Chance gehabt.
3. Stimmung im Hörsaal - Stress für die Bundeswehr
Zwar gehört es zu den schönsten Erlebnissen des Psychiaters, wenn er zusehen darf, wie ein depressiver Mensch wieder gesund wird. Doch die Depression selbst zu begleiten, kann auch mühsam sein. Tief in sich gesunken saß unser Psychiatrieprofessor vor einer rundlichen Patientin, die ebenfalls die ganze
Last ihrer Depression in ihrer bedrückten Sitzhaltung zum Ausdruck brachte. Das in leisem dumpfem Ton geführte Gespräch war gerade zu Ende, die Patientin erhob sich und verließ mit hängenden Schultern den Hörsaal. Professor Vogel erläuterte noch einige Charakteristika einer Depression, als plötzlich die Hörsaaltür aufgerissen wurde. Mit dem Ruf »Vöjelchen, schön dat du da bist!« stürmte eine ebenso füllige, schwarzbekleidete, rothaarige Frau mittleren Alters, ein kleines Handtäschchen um den ausgestreckten Zeigefinger wirbelnd, auf die Hörsaalbühne. Professor Vogel nahm sofort eine jovial-lässige Haltung ein. Diese Patientin war offensichtlich nicht depressiv, ganz im Gegenteil, sie bot eindrucksvoll den anderen Pol der bipolaren affektiven Störung, die Manie. Ohne Punkt und Komma sprudelten die Worte aus ihr heraus. Gestern sei sie wieder mit dem Bus gefahren, da hätte sie richtig eine Show abgezogen. Die Leute hätten das super gefunden. Sie hätte fast standing ovations bekommen... »und überhaupt, Vöjelchen, wat siezt du mich denn dauernd, du duzt mich doch sonst auch immer, die Leute sind heutzutage so schüchtern, gestern in der Metzgerei, da hab ich die Verkäuferin mal gefragt, ob sie schon mal fremdgegangen sei, du, die lief ganz rot an und stotterte rum, dabei hätten sich die vielen Kunden sicher sehr dafür interessiert, aber macht nichts, Kundschaft ist ja überall wichtig, auch hier bei euch... Vöjelchen, wat tun denn all die Leute hier?« »Das sind Studenten...« »Dann bin ich hier also Studentenfutter... das habe ich übrigens nie gemocht, war viel zu klebrig, gemocht habe ich meinen Willi, der hat immer alles getan, was ich wollte, dann war der irgendwann weg, nein, genauer gesagt, ich war weg... mit dem Taxi nach Hamburg, wir ham‘s ja, einmal mit dem Taxi von Bonn nach Hamburg, Kaffeetrinken an der Außenalster und dann wieder zurück, das wollte ich immer schon mal... es war herrlich. Warum heißt das eigentlich herrlich und nicht dämlich.
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