Irrfahrt
oder in Mürwik. Es war ja auch gleichgültig.
Ein junger Matrose, der seine erste Fahrt mitmachte, wimmerte und stöhnte. Vergeblich bemühten sich die Männer, etwas festzustellen. Er mußte innere Verletzungen haben. Dem alten Huhn krampfte sich das Herz zusammen, als er das schmerzverzerrte, knabenhafte Gesicht sah. Er gab dem Jungen einen harten Kinnhaken, der ihn bewußtlos machte. Kräftige Arme legten den Verletzten sanf t in eine der Kojen.
Ein Maschinenmaat war von der gewaltigen Explosion in eine Ecke geschleudert worden. Seine Schläfe blutete leicht. Er sank um, ohne daß es jemand bemerkte. Das Wasser stand kniehoch im Raum. Zufällig stieß einer der Männer mit seinem Fuß gegen den Körper. Der leblose Maat wurde aufgehoben; er war in den wenigen Minuten ertrunken.
Das Boot lag beinahe ruhig im tiefen Wasser.
Der Kommandant wußte, daß es dem Ende zuging. Was sollte er tun? Es gab nur einen einzigen Ausweg: beschleunigtes Auftauchen und Verlassen des Bootes. Vor kurzem noch, als er sich mit dem Ingenieur beriet, hatte er die Gefangenschaf t strikt abgelehnt. Ein deutscher Offizier kapituliert nicht! Aber jetzt? «Anblasen!» rief Thieme in die Zentrale. «Befehl abwarten zum Aussteigen!»
Vorsichtig ließ der Ingenieur die Luf t in die Tauchtanks zischen. Langsam, sehr langsam hob sich das Boot; Helmut Koppelmann spürte es in seinem empfindlichen Magen.
Die Nerven der Männer waren aufs äußerste gespannt. Noch bestand Hoffnung. Wenn das Auftauchen gelang, konnten sie vielleicht von der Korvette aufgenommen und gerettet werden.
«Hundertzehn Meter!» meldete der Zentralemaat. Und nach endlosen Sekunden: «Hundert Meter!»
Warum geht das nicht schneller, dachte Helmut verzweifelt. Er rief sich die Alarmübungen auf der U-BootSchule ins Gedächtnis zurück. Mit einem Tauchretter mußten sie aus einer Bootsattrappe aussteigen. Er hatte Stunden gebraucht, bis er den langen Text auswendig wußte: «Das Aussteigen aus einem auf dem Meeresgrunde liegenden gefluteten, dunklen U-Boot erfordert ein Höchstmaß an kühler und mutiger Entschlossenheit ... Das Aussteigen ist nur bis zu einer gewissen Wassertiefe möglich. Geschieht es in einer größeren Tiefe als zehn Meter, wie es wohl fast immer der Fall sein wird, dann muß ... »
Helmut überlegte angestrengt. Hatte der Ausbilder vierzig oder sechzig Meter gesagt? Darüber war sogar lange und unter Heranziehung scharfsinniger Argumente aus der Physik gestritten worden. Bis vierzig war es bestimmt möglich, zwischen vierzig und sechzig mehr als riskant. Der Tiefenmesser zeigte fünfundneunzig Meter.
«Voll anblasen!» rief Thieme ärgerlich.
«Alle Tanks angeblasen!» gab der Ingenieur durch sein Sprachrohr zurück. Fast tonlos bestätigte er, was alle bereits ahnten: «Tauchtanks leck. Auftauchen nicht möglich!»
In diesem Augenblick wußten sie, daß ihr Schicksal besiegelt war. Was vor ihnen lag, war ein sinnloser Kampf gegen den Tod, eine Qual, wie sie grausamer nicht erdacht werden konnte.
Neuer Anlauf des Zerstörers! Deutlich hörten die Männer das polternde Geräusch der beiden mächtigen Schiffsschrauben. Thieme kämpfte verbissen. Mit einer Fahrtstufe, die niemand dem weidwunden Fahrzeug zugetraut hätte, entzog er es noch einmal knapp der Vernichtung. Alle hatten, als der Zerstörer sie überlief, das unvermeidliche Ende erwartet. Daß sie noch lebten, erschien ihnen wie ein kaum glaubhaftes Wunder.
Helmuts Gehirn arbeitete fieberhaft. Sie hatten doch das Schwesterboot aus hoffnungsloser Lage errettet. Warum sollte nicht auch ihnen ein anderes U-Boot zu Hilfe kommen? Er kannte die unendliche Weite des Ozeans. Wie verloren war sich das kleine Fahrzeug manchmal vorgekommen. Aber selbst ein so seltenes Ereignis wie das Zusammentreffen zweier U-Boote auf hoher See war ja nicht völlig ausgeschlossen. Und wenn der andere Kommandant nun den Mut aufbrachte, den Zerstörer direkt anzugreifen, und wenn er dann auch die Korvette angriff, und wenn die Lenzpumpen bis dahin wieder klar waren.
Wenn ... wenn ... wenn ...
Die Bordsprechanlage funktionierte nicht mehr. Der Kommandant hatte keine Verbindung mit seinem Ersten Wachoffizier. Er schickte Koppelmann auf die Suche. Helmut verließ den Kommandoturm und stieg hinunter ins Boot. Sein Schädel war am Zerspringen. Bleischwer lastete der Luftüberdruck auf den Ohren, man konnte sich nur durch lautes Schreien verständigen. Zuviel Wasser war inzwischen eingedrungen.
Helmut suchte in
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