Irrfahrt
allen Abteilungen. Der I WO war nirgends zu finden. Schließlich kam er in den O-Raum. Oberleutnant Berger lag auf seiner Koje, das Gesicht zur Wand gedreht. Sein Kopfkissen war von Blut getränkt. Als Helmut näher trat, sah er die Wunde an der Schläfe. Berger hatte sich erschossen. Seine Dienstpistole lag neben ihm.
Eine Weile verharrte Helmut reglos vor dem Toten. Er hat es überstanden, dachte er, und braucht sich nicht mehr zu quälen. Eigentlich ist es Feigheit, wenn ein Offizier sich erschießt. Oder ist es Mut? Wo liegt hier die Grenze?
Der Fähnrich Helmut Koppelmann, achtzehn Jahre alt, wollte so nicht sterben. Er nahm die Waffe an sich, sicherte sie und kletterte wieder in den Turm. Bei der Nachricht wurden die Gesichtszüge des Kommandanten hart, wie aus Stein gemeißelt.
Thieme befahl seinem Zweiten Wachoffizier, die Besatzung abzuzählen. Der Leutnant ging denselben Weg, den Koppelmann gerade gekommen war. Niemand beachtete ihn. Stumpfsinnig hockten die Männer irgendwo herum, einige hatten sich einfach auf die Koje gelegt. Durch die aufreibenden Erlebnisse der letzten Stunden waren sie apathisch geworden und nahmen keinen Anteil mehr an dem Geschehen im Boot. Manche träumten von Heimaturlaub, von riesigen Saufgelagen und Orgien mit zahlreichen Mädchen.
Der II WO zählte fünf Tote und sechsundvierzig Lebende. Ohne ein Wort überreichte er dem Kommandanten die Meldung. Der gab sie an Koppelmann weiter, damit er die Angaben in das kleine schwarze Hef t eintrug.
Fast schmerzhaf t empfand Helmut die Sinnlosigkeit eines derartigen Auftrages. In einigen Minuten war das Boot geknackt. Kam es wirklich darauf an, genau zu wissen, wie viele schon tot waren und wie viele noch zu sterben hatten? Wozu braucht man Unterlagen für ein Logbuch, das nie geschrieben wurde? Dennoch gehorchte er. Mechanisch reihte er Zahl an Zahl und Buchstaben an Buchstaben: 6. Mai 1943, Uhrzeit 10.35. An Bord fünf Tote ...
In den meisten Räumen des Bootes brannte nur noch eine trübe Funzel. Der Strom in den Akkus war jetzt entscheidender Lebenssaft; er mußte so lange wie möglich aufgespart werden.
Zwei Mechanikern war es in mühseliger Arbeit gelungen, ihr Horchgerät wieder klarzumachen. Stolz brachten sie die Meldung von der Betriebsbereitschaft. Bei der Arbeit war ihnen nicht bewußt geworden, wie sehr sich die Lage in der Zwischenzeit verschlechtert hatte. Erst von den Gesichtern ihrer Kameraden konnten sie ablesen, daß diese Meldung nicht ausreichte, um die Besatzung von der Apathie zu befreien.
Das Gerät erhielt sofort Arbeit. «Anlauf der Korvette», kam die Meldung. Der Kommandant ließ die Tiefenruder verstellen. Langsam verholte das Boot in eine andere Wassertiefe. Trotz der hoffnungslosen Lage war Thieme noch immer der kühl rechnende Taktiker.
Die angreifende Korvette hatte zwar die Positionsänderung des Unterseebootes, nicht aber die veränderte Wassertiefe berücksichtigt. Die Bomben lagen gut im Ziel, nur fünfundzwanzig Meter zu tief. Wie in einem Schnellaufzug fühlten sich die Männer angehoben, als das Boot nach oben gedrückt wurde.
Noch einmal schöpfte Koppelmann Hoffnung. Vielleicht war das Verholmanöver eine letzte geniale Berechnung des Kaleus? Mit Hilfe der Wasserbomben wollte er das fast bewegungsunfähige Boot bis an die Oberfläche auftreiben lassen, damit wenigstens einige Männer durchs Turmluk aussteigen konnten. Koppelmann saß im Turm, er würde bestimmt dabeisein.
Wie ein Irrsinniger klammerte er sich an diesen Strohhalm. Der Tiefenmesser zeigte fünfundfünfzig Meter. Gebannt starrte er auf den Zeiger, als wollte er ihn hypnotisieren. Bei vierzig Meter blieb der Zeiger stehen. Aus und vorbei!
Immer dunkler wurde es im Boot. Die Lenzpumpen begannen zu arbeiten. Die schwierige Reparatur war beendet. Aber die Pumpen liefen nur langsam; sie hätten Stunden gebraucht, um das Wasser aus allen Räumen zu entfernen. Nun erloschen die Glühbirnen fast ganz. Die Pumpen benötigten den letzten Rest elektrischer Energie.
Der Ingenieur kam in den Turm geklettert. «Wieviel Saf t haben wir noch drauf?» fragte Thieme. «Zweihundert Amperestunden», erwiderte der Ingenieur. In vollem Ladezustand waren es neuntausendeinhundert! Zweihundert reichten nicht, um die Maschinen in Bewegung zu setzen. Selbst wenn alles auf einen Elektromotor geschaltet wurde, konnte die Schraube höchstens zwanzig Umdrehungen machen. «Damit schaffen wir keine zehn Meter», sagte Thieme. «Lassen Sie weiter
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