Irrfahrt
lenzen!»
Das Summen der Pumpen war beruhigend, es dämpfte das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die unheilverkündende Stille wurde wenigstens von einem vertrauten Maschinengeräusch unterbrochen.
Sehr langsam arbeiteten die schwachen Pumpen. Nur wenig Wasser konnten sie aus dem halbüberfluteten Boot hinausbefördern. Nein, es war endgültig aus! Was jetzt noch kam, waren die letzten Zuckungen eines Tieres auf der Schlachtbank.
Über ihnen rumorte der Zerstörer. Das Boot lag vorn ein wenig tiefer im Wasser. Mit gesenktem Kopf erwartete es den Todesstoß. Thieme unternahm keinen Versuch mehr, dem Angrif f auszuweichen. Die Batterien waren leer.
Koppelmann erinnerte sich, was er auf der U-BootSchule über Wasserbomben gelernt hatte. «Eine Wasserbombe, abgekürzt Wabo, sinkt vier Meter in der Sekunde. Ihre Explosion soll dazu dienen ... »
Das Boot lag in vierzig Meter Tiefe. Er glaubte vierundzwanzig gezählt zu haben, als oben die Bomben ins Wasser klatschten. Der Angreifer hatte auf engen Abstand eingestellt. Noch zehn Sekunden, dann war alles Leben ausgelöscht.
In der ersten Sekunde dachte Helmut an den 4. September 1939. Mit Gerhard und Heinz saß er im Jägerwäldchen. Er konnte die Stelle genau beschreiben, wo sie ihre entscheidende Beratung abgehalten hatten. Zur Kriegsmarine wollten sie gehen, Offizier werden. An diesem Tag gründeten sie ihren Flottenverein und kauften Weyers «Taschenbuch der Kriegsflotten».
In der zweiten Sekunde dachte er an Kuhle. Streng fragte der grauhaarige Hüne ab, was ein fleißiger Schüler vom Atlantik zu wissen hatte: Entstehung, Tiefe, Ausdehnung, Bedeutung für den Weltverkehr. Als Helmut ins Stocken geriet, bekam er eine gewaltige Ohrfeige.
In der dritten Sekunde dachte er an den Hausmeister Rämisch. Direktor Gall wollte für die Schule eine Lenzpumpe anschaffen, falls im Keller einmal Wasser stand. Rämisch widersprach frech und bezeichnete die Anschaffung als nicht kriegswichtig. Der blöde Rämisch! Natürlich begrif f er nicht, wie bedeutungsvoll gerade eine Lenzpumpe für das Überleben sein konnte.
In der vierten Sekunde dachte er an das Arbeitsdienstlager Eckdorf und an seine erste Liebe. Mit Heidemarie lag er auf dem kühlen Waldboden. Sie trug das blaue Kleid mit weißen Punkten, darüber eine Strickjacke. Merkwürdig, ihr Gesicht kam ihm so fremd vor.
In der fünften Sekunde dachte er an den Dänholm. Ein baumlanger Maat befahl ihm, ein Zimmer zu feudeln, in dem das Wasser einen Meter hoch stand. Verwundert fragte Helmut, was er mit dem Feudel anfangen sollte. «Warum stellt hier keiner die Lenzpumpen an? So ein Unsinn!» Der Maat wuchs ins Riesenhafte, als wollte er den Rekruten Koppelmann verschlingen.
In der sechsten Sekunde dachte er an den Großadmiral Dönitz und seine Ansprache in Mürwik. Mit gepreßter Stimme befahl Dönitz dem Kommandanten Lutz Thieme, augenblicklich einen Fächer mit hundert Langstreckentorpedos zu feuern und auf diese Weise den gesamten Konvoi ONS-5 zu vernichten. Thieme riß die Hand an die Mütze und sagte zackig: «Jawoll, Herr Großadmiral! Augenblicklich! Wird ja auch höchste Zeit!»
In der siebten Sekunde dachte er an den Unterricht über Tauchretter. Bis vierzig Meter war der Gebrauch bestimmt möglich. Eigentlich mußte das Boot hierbei auf Grund liegen. Warum? Und warum hatte der Atlantik an dieser Stelle eine Tiefe von mehr als tausend Metern. Vierzig Meter hätten für die Schiffahrt bequem ausgereicht.
In der achten Sekunde dachte er an den großen Tanker, der am Heck torpediert wurde und einen Fangschuß in die Maschine erhielt. Sofort sprang er ins Wasser und begann wild loszuschwimmen, während sich hinter ihm die Flammen ausbreiteten. Ein starker Schwimmer kam neben ihm auf, zeigte sein angstverzerrtes Gesicht und gurgelte: «Das zahlen wir diesen Hunden eines Tages heim ... » Immer heißer brannte das Feuer, immer näher krochen die Flammen.
In der neunten Sekunde dachte er an den Morgen, als das Boot einen ÖlfIeck auf dem Atlantik durchfuhr. WrackteiIe und grausig verstümmelte Leichen trieben im Wasser. Der Kaleu kommandierte ihn auf die Schanz, er solle erreichbare Teile auffischen: Hände, Beine, abgetrennte Köpfe mit unnatürlich herausquellenden Augen. Sein Magen revoltierte. Warum gab Thieme diesen entsetzlichen Befehl?
In der zehnten und letzten Sekunde dachte Helmut Koppelmann an die Nacht, als sie einen Frachter und anschließend eine Korvette torpedierten. Durch ein gewaltiges Fernglas
Weitere Kostenlose Bücher