Irrfahrt
verräterische Generale aus der Front heraus ganze Divisionen dem Feinde zugeführt und andere in feindseliger Absicht zwischen die deutschen Heeresteile geschoben worden waren. Im Westen ist das alles anders. Wo immer Eisenhower angreifen mag, wird er auf deutsche Soldaten stoßen und auf ein Verteidigungssystem, wie es noch nie zuvor geschaffen worden ist. Hier sind alle Erfahrungen dieses Krieges verwertet, alle natürlichen Möglichkeiten ausgenutzt und alle technischen Mittel, die in diesem Krieg entwickelt wurden, eingesetzt ... »
Na also! Genau das, was Rauh gefordert hatte. Ein Schweizer Blatt! Gerber überlegte: Wo hört eigentlich das Zitat auf? Haben die Schweizer nur den Satz über Sizilien geschrieben oder auch das übrige? Bestimmt nicht. Aber beim Gedankengang sei das Produkt einer neutralen Stellungnahme. Die Schüler des hinkefüßigen Propagandaministers verstanden jedenfalls ihr Handwerk.
Die Schulung fand am nächsten Vormittag im Gebäude des Flottillenstabes statt. Gerber meldete die Besatzung. Rauh und ein Oberleutnant vom Stab nahmen in der ersten Reihe Platz. Adam saß demonstrativ eine Reihe dahinter. Er nickte Gerber aufmunternd zu.
In der Pause verholten sich die Offiziere in die Messe tranken ein Gläschen oder auch zwei. Nach einer Viertelstunde ließ Gerber seine sechzig Schäflein wieder in den Saal treiben. Gehorsam wartete er, bis die hohen Herren erschienen. Zweiundzwanzig Minuten, stellte er befriedigt fest.
Italien, Norwegen, Atlantik - Gerber kam über die Runden. Zum Schluß das herrliche Zitat aus dem "Völkischen Beobachter», mit lauter und fester Stimme vorgetragen.
«Das haben Sie gut gemacht», sagte der Oberleutnant und gab Gerber die Hand. «Sogar die Schweizer sind jetzt der Meinung, daß die Invasion scheitern muß. Dann dürfen wir, erst recht nicht den Glauben verlieren.»
Drei Tage später wurde Gerber zum Oberfähnrich befördert. Adam war der erste, der ihm gratulierte, mit einem Augenzwinkern.
Der Frühling begann an der Kanalküste schon Anfang März. Überall sprießte frisches Grün, und bald standen die Kirschbäume in voller Blüte. Zu Hause liegt bestimmt noch Schnee, dachte Gerber. Heimweh bedrückte ihn.
Die Vorbereitungen auf die Abwehr der zu erwartenden Invasion liefen weiter. Stellungen wurden ausgehoben, neue Einheiten an die Küste verlegt. Auch die Schiffsbesatzungen mußten eine Woche Schanzdienst ableisten. Rauh übergab das Kommando an Gerber. Schützengräben waren zu buddeln, auf den Wiesen mußten Baumstämme in regelmäßigem Abstand eingegraben werden. Ein schütterer Wald aus Pfählen. «Gegen Lastensegler», sagte jemand mit wichtiger Miene.
Die Züge fuhren jetzt mit einem Flakwagen. Auf einem flachen Güterwagen war ein Zweizentimetervierling montiert und durch Sandsäcke gegen Splitter gesichert. Mosquitos, Lightnings, Thunderbolts und Mustangs machten systematisch Jagd auf deutsche Militärtransporte, beharkten sie mit Bordwaffen und Bomben. Entlang der Strecken lagen die Trümmer ausgebrannter Züge, entgleister Lokomotiven, demolierter Waggons. Gegen die Bordwaffen der Flugzeuge kam auch eine Vierlingsflak nicht auf.
Immer stärker regte sich der Widerstand im besetzten Frankreich. In der Nacht flogen Brücken in die Luft, wurden Gleise gesprengt und Lastwagenkolonnen überfallen. Die Männer der Resistance erschwerten auf jede nur mögliche Art den Nachschub zur Kanalküste. Die Wehrmacht rächte sich an der Zivilbevölkerung: Rote Plakate gaben bekannt, welche Bürger als "Vergeltungsmaßnahme» hingerichtet worden waren. Die Erbitterung über die deutsche Herrschaf t wuchs ins grenzenlose.
Die Lage an der Atlantikküste war alles andere als rosig. Dringend benötigter Nachschub kam nur mit großer Verspätung in Saint-Malo an; auf manche Lieferung warteten die Flottillen vergebens. Mutter Gerber numerierte neuerdings ihre Briefe an Gerhard. Daraus war ersichtlich, wie viele Sendungen unterwegs verlorengingen.
Urlaubssperre! Gerber fluchte. Ausgerechnet jetzt, wo er an der Reihe war! Der Kommandant gab ihm einen Tag dienstfrei. Einen ganzen Tag als Ersatz für drei Wochen! Und für dieses Entgegenkommen mußte er sich auch noch höflich bedanken.
Gerber beschloß, den dienstfreien Tag voll auszunutzen. Zunächst machte er einen Bummel durch die Altstadt. Saint-Malo, auf einer felsigen Insel errichtet, mußte in vergangenen Jahrhunderten eine gut verteidigte Festung gewesen sein; davon zeugten noch die
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