Irrfahrt
gewaltigen Mauern. Der künstliche Damm zum Festland und der Hafen waren erst später angelegt worden.
Neben dem Haupttor befand sich ein großer, von vier dicken Türmen flankierter Gebäudekomplex: das Schloß. Diesen Bau hatten die Architekten geschickt in die Festungsmauern eingegliedert. Heute dienten die Plattformen der Türme als Flakstände. Drohend ragten die Geschützrohre in den Himmel.
Durch ein mächtiges Doppeltor gelangte Gerber in die Altstadt. Die Häuser aus graublauem Granit sahen sich alle ähnlich, und dafür gab es eine Erklärung: Im Jahre 1693 hatten die Engländer Saint-Malo beschossen und mit Hilfe eines - Branders, der zweihundert Faß Pulver trug, in die Luf t gesprengt. Aber die Bewohner waren wohlhabend genug, ihre Stadt bald wieder aufbauen zu können - großzügig und gleichartig in Stil und Baumaterial.
Auf dem höchsten Punkt des Felsens stand die Kathedrale St-Vincent. Ihr durchbrochener gotischer Turm war das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt. Of t hatte Gerber von Seeseite aus diese Landmarke angepeilt.
Er nahm seine Mütze ab und betrat ehrfurchtsvoll den hohen Innenraum der Kirche. Die bunten Glasfenster ließen wenig Sonnenlicht durchscheinen, Einige alte Frauen beteten vor den Statuen der Heiligen. Tief beeindruckt von der Stille gedachte Gerhard seiner beiden Freunde, die so früh ihr Leben hingeben mußten. Hatte ihr Tod einen Sinn? Hatte dieser ganze Krieg, der nun schon viereinhalb Jahre dauerte und Millionen Menschen verschlang, überhaupt noch einen Sinn?
Gerber verließ die Kathedrale und ging quer durch die Stadt zum kleinen Tor. Über eine enge Stiege kam er auf die Mauerkrone. Die Pforte war verschlossen, aber gegen ein Trinkgeld öffnete ihm eine ältere Frau, die im Turm wohnte.
Von der Mauer schweifte der Blick über ein Meer von Schornsteinen und graublauen Dächern; über die Reede bis hin zum Kurort Dinard.In dieser Bucht hatten vor dem Kriege reiche Engländer mit ihren Segelyachten geankert. Es konnte nicht mehr lange dauern, dann waren sie wieder hier, allerdings wohl kaum zur Erholung.
Hinter der Schleuse stieg ein Vorort auf. Gerber kannte ihn nur von den Karten: St-Servan. Auf der Kuppe des abgerundeten Hügels stand ein weißer, langgestreckter Gebäudekomplex. Offenbar ein Lazarett.
Gerber schlenderte weiter auf der Stadtmauer entlang. Unvermittelt lag hinter einer Biegung der Hafen mit allen drei Becken vor ihm. Wie Spielzeug sahen die Boote aus. Ein kleiner Dampfer fuhr gerade «Schleife». Gerber mußte an seine erste Seefahrt denken. Zwei Jahre war das her. Damals war er noch Matrose.
Wieder an dem alten Schloß angelangt, hatte Gerber den Strand St-Thomas vor Augen. Wegen der Minensperren war es verboten, dort zu baden.
Weit außerhalb lagen zahlreiche kleine Fischereifahrzeuge. Die Verwaltung hatte den Fischern ein bestimmtes Areal, das frei von Minen war, als Fanggebiet zugeteilt. Aus der Entfernung wirkten die Boote mit ihren Lateinsegeln wie ein Schwarm aufgescheuchter Insekten.
lrgendwo dort draußen lagen auch die berühmten Austernbänke. Sie wurden von einer Genossenschaf bewirtschaftet. Auch sonst brachten die Boote viele delikate Meeresprodukte an Land. Das Angebot in den Lokalen der Stadt blieb deshalb auf einer bemerkenswerten Höhe. Gerhard nahm sich vor, wieder einmal gut essen zu gehen.
Jäh wurde er durch aufbrandenden Gefechtslärm aus seinem Traum gerissen. Mosquitos hatten sich mit gedrosselten Motoren auf die Stadt heruntergleiten lassen. Als die Maschinenkanonen auf den Kriegsfahrzeugen zu schießen begannen, drehten sie ab.
«Verdammter Scheißkrieg!» schimpfte Gerber. «Nicht einmal hier oben hat man seine Ruhe.»
Bis zum Abend hielt er sich in der Stadt auf. Es war wenig Betrieb. Ohne festes Ziel trottete er durch die engen Gassen des alten Seeräubernestes. Von einer Straßenecke war plötzlich Lärm zu hören. Eine Schlägerei war im Gange. Matrosen und Fallschirmjäger bearbeiteten sich mit den Fäusten. Zwei ausgeschlagene Zähne lagen bereits auf dem Pflaster.
Einige besonnene Männer traten dazwischen und versuchten, die Kampfhähne zu trennen. Es gab ein lautes, scharfes Palaver. Jeder schrieb dem Gegner die Schuld am Ausbruch der Feindseligkeiten zu. Das ist bei einer Schlägerei genauso wie beim Krieg, dachte Gerber. Wütend standen sich die Männer gegenüber - auf der einen Seite die Fallschirmjäger, auf der anderen die Matrosen.
Gerber legte sich ins Mittel; zwei Oberjäger halfen ihm
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