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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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eigenen Bootes und jedes wichtige Kommando zu rekonstruieren. Thieme konnte den gesamten Fall noch einmal nachspielen, wenn er wollte. Meistens wollte er.
    Als die Sonne unterging, lief der Zerstörer längst wieder an der Spitze seines Verbandes. Da entschloß sich Thieme, die Funkmeldung an den BdU durchzugeben.
    Der Kommandant manövrierte sein Boot in eine Position, bei der er den einsamen Dampfer zwischen sich und einem hellen Streifen am Horizont zu stehen hatte. Die «Bactria» war leicht zu beobachten und kaum zu verlieren. In dieser Breite wurde es im Sommer nicht richtig dunkel; man konnte mit einiger Anstrengung sogar noch gegen Mitternacht auf der Brücke lesen.
    Thieme ließ die Abstände zum Dampfer schätzen. Das war ein ganz nützlicher Zeitvertreib. Koppelmann mußte aus der Zentrale ein Entfernungsmeßgerät, Baujahr 1938, holen und einen Mast anpeilen. Dem Kommandanten durfte er den richtigen Wert ins Ohr flüstern, alle anderen mußten schätzen. Auf weniger als hundert Meter genau konnte die Entfernung abgelesen werden. Der Kaleu lag mit seinem Schätzwert am besten, auch die anderen Zahlen waren noch recht gut. Mit zunehmender Dunkelheit nahm auch die Streuung der Werte zu. In der Nacht wurde die Entfernung von allen Männern auf der Brücke weit unterschätzt.
    Der Kommandant gab Erläuterungen, warum das so sein müßte. Koppelmann fand diese Art von Schulung sehr interessant. Dabei war der Alte trotz aller Großzügigkeit sehr auf seine Befehlsgewalt bedacht. Ein Verstoß gegen Disziplin und Ordnung wog bei ihm schwer. Als der II WO einmal bei der Verfolgung eines Dampfers auf eigene Faust, aber im besten Glauben an die Richtigkeit seiner Maßnahme, eine Kursänderung befohlen hatte, sprach Thieme zwei Wochen lang nicht ein Wort mit ihm. Jeden Befehl an den Leutnant übermittelte er indirekt oder schriftlich.
    Koppelmann gewann den Eindruck, als Lehrling in eine Firma mit solidem Geschäftsgebaren eingetreten zu sein, in der allein der Chef bestimmte: Hier gab es keinen Prokuristen, der selbständig Entschlüsse fassen durfte.
     
    Kurz vor Mitternacht ging das Boot zum Angriff über. Zwei Tauchtanks waren geflutet, nur der ovale Turm schaute aus dem Wasser. Das hochragende Schif f hob sich deutlich vom hellen Saum des Horizontes ab.
    Rohr eins wurde klargemacht. Durch ein Sprachrohr gab der Kaleu seine Werte durch. Nach knapp einer Minute kam die Antwort aus dem Bugraum: «Werte eingedreht, Rohr eins klar und bewässert!»
    Aus achterlicher Position dampfte das Boot auf, bis es auf sechshundert Meter heran war. «Achtung!», und wenige Sekunden später: «Rohr eins ... looos!» Koppelmann spürte, wie ein Stoß das gesamte Boot erschütterte.
    Aus dem Horchraum kam die Meldung, daß der gefeuerte Torpedo die eingedrehte Richtung aufgenommen hatte. Diese Meldung war von Bedeutung. Bei einem Versagen der Steuerung lief der Torpedo im Kreise und konnte das U-Boot selbst treffen. Dann half nur ein schneller Tauchstoß.
    In der Zentrale drückte der Maat auf die Stoppuhr. Auf der Brücke wurde halblaut mitgezählt. Etwa zwanzig Sekunden betrug die Laufzeit.
    Als Oberleutnant Berger bis fünfzehn gezählt hatte, stieg die Spannung auf den Höhepunkt. «Sechzehn... siebzehn...» Jeden Augenblick mußte der Torpedo sein Ziel erreichen. «Achtzehn ... neunzehn ... » Jetzt war es geschafft. «Zwanzig ... einundzwanzig ... » Ein Fehlschuß war fast undenkbar. «Zweiundzwanzig ... dreiundzwanzig ... vierundzwanzig... » Sollte man die Entfernung verschätzt haben? «Fünfundzwanzig ... sechsundzwanzig ... » Das wären ja mehr als tausend Meter! Ausgeschlossen!
    Als Berger bei dreißig angelangt war, wurde Thieme grob. «Halten Sie doch endlich die Schnauze!» Der Torpedo war vorbeigelaufen.
    Thieme ließ Rohr zwei zum Schuß klarmachen. Er schickte Berger in den vorderen Torpedoraum, damit er das Eindrehen der Werte überwachte. Irgend etwas war dort schiefgegangen. Immerhin hatte der Fehlschuß auch sein Gutes: jetzt konnte man sicher sein, daß der Nachzügler keine U-Boot-Falle darstellte. Das Geräusch des vorbeilaufenden Torpedos wäre auf einem mit Horchgeräten ausgestatteten Fahrzeug bestimmt gehört worden. Der schlafmützige Dampfer aber zog unbeirrt seine Bahn.
    Der I WO meldete, daß alles klar sei. Neuer Anlauf, wieder aus derselben Position. Diesmal wagte es Thieme, auf vierhundert Meter heranzugehen. Das waren vierzehn Sekunden Laufzeit. Als der Torpedo fauchend sein Rohr verließ,

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