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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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Großen und den Kleinen Wagen. Bald hatte ihm Bootsmann Huhn, ein alter Fahrensmann auf den Fischdampfern der Doggerbank, alle Sternbilder der nördlichen Halbkugel beigebracht. Sogar die kleineren Bilder wie Delphin und Pfeil, Giraffe und nördliche Krone konnte Helmut nun allein bestimmen. Die Beobachtung veränderlicher Sterne, deren Helligkeit in jeder Nacht geschätzt wurde, machte ihm Freude. Das Erlebnis der Natur söhnte ihn mit den Widerwärtigkeiten der Technik einigermaßen aus.
     
    Kapitänleutnant Thiemes Boot durchfuhr den nördlichen Atlantik. Angestrengt schauten die Männer auf der Brücke durch ihre Gläser. Endlich wurde es Ernst. Ein Geleitzug sollte irgendwo in der Nähe stehen. Wer als erster eine Rauchfahne meldete, konnte mit Beförderung oder Auszeichnung rechnen. Aber soviel sie auch schauten, der Horizont blieb leer.
    «Ist ja auch kein Wunder», sagte der Il WO zu Helmut Koppelmann, «uns fehlt eine weiträumige Luftaufklärung. Zwei bis drei Geschwader zum Beispiel, mit Bomben an Bord. Im vorigen Jahr hatte das so ziemlich geklappt, aber jetzt? Unsere Anforderungen stehen auf dem Papier ... Flugzeuge für die Marine? Nicht beim dicken Göring! Ich habe einen Bruder bei der Luftwaffe. Sie machen sich keine Vorstellung, Koppelmann, wie viele Maschinen wir im Osten einbüßen. Die Zugänge decken kaum die Verluste. Die Ostfront frißt alles auf, da bleibt für uns nichts übrig ... »
    Als die Nachmittagswache abgelöst wurde, traf eine Meldung im Funkschapp ein, die als dringend bezeichnet war. Die Funkbeobachtung meldete, daß der Geleitzug in der Nacht seinen Kurs geändert hatte. Kapitänleutnant Thieme fluchte. Da hatten sie also stundenlang in der falschen Richtung gesucht. Erst am nächsten Tag bestand Hoffnung, an den Konvoi heranzukommen.
    Spätabends mußte das Boot routinemäßig seine Standortmeldung abgeben: Position, verschossene Torpedos, Brennstof f und Lebensmittelvorrat. Unwillig befolgte Thieme den Befehl. Er wußte, daß diese Meldungen neuerdings von alliierten Küstenstationen, Schiffen und Flugzeugen eingepeilt wurden. In Großbritannien konnten sie wahrscheinlich sogar dechiffriert werden. Und selbst wenn man dort noch nicht so weit war, vermochte man aber die Standortmeldung jedes Unterseebootes genau einzumessen. Ein Aufmarsch der grauen Wölfe zur Schlacht um einen Geleitzug war dadurch bereits im Ansatz erkennbar und rief sofort entsprechende Gegenmaßnahmen hervor. Der vielgerühmte und of t belächelte deutsche Sinn für Ordnung wurde manchem U-Boot zum Verhängnis.
    Die Kommandanten wußten das, die Admirale nicht.
     
    Helmut Koppelmann zog auf Nachtwache. Das Meer war ruhig. Nur selten drang ein kleiner Spritzer bis zum Turm. Mit gleichmäßiger Bewegung in der langen Dünung arbeitete sich das Boot vorwärts.
    Kurz bevor die Sterne zu verblassen begannen, rief der II WO «Dämmerungsbeginn» in die Zentrale. Schnell wurde es auf der Brücke hell. Da immer noch nichts geschah, kletterte der Leutnant voll trüber Ahnungen selbst nach unten. Koppelmann hörte laute, erregte Stimmen. Dann erschien Thieme auf der Brücke, ein schwarzes Futteral unter dem Arm. Er schimpfte wie ein Rohrspatz. Die Männer in der Zentrale hatten versäumt, ihn auf den ersten Ruf des WO hin zu wecken. Entscheidende Minuten waren verpaßt, die letzten Sterne verblichen. Den Sextanten hatte Thieme umsonst mitgebracht. Für eine Bestimmung der Schiffsposition war es zu spät. Ausgerechnet heute, wo es darauf ankam! Wie sollte das Boot ohne genaue Kenntnis der Position einen Geleitzug finden?
    Thieme brummte dem Zentralemaat einundzwanzig Tage Arrest auf. Auch zwei andere Männer, die eigentlich an dem Versäumnis unschuldig waren, sollten sich nach der Ankunft in Lorient zur Bestrafung melden.
    Die Nachmittagswache wurde verstärkt. Aller Voraussicht nach mußte das Boot in unmittelbarer Nähe des Geleites stehen. Einzeln instruierte der Kommandant seine Ausguckposten und stellte Belohnungen in Aussicht. Jetzt oder nie!
    Mehrfach glaubte Koppelmann den Geleitzug entdeckt zu haben. Auch die Posten auf den anderen Sektoren riefen ihre Kameraden zu Hilfe, wenn sich irgendeine Trübung am Horizont zeigte. Jedesmal war der Wunsch Vater des Gedankens gewesen.
    Und wieder glaubte Helmut Koppelmann etwas zu sehen. Er wagte nicht, es anderen mitzuteilen. Zu viele Fehlmeldungen waren schon vorausgegangen. Als er erneut hinschaute, befand sich der graue Schimmer noch an derselben Stelle.

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