Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
Vom Netzwerk:
seines Kopfes. Diese Sonne war sehr merkwürdig: sie dehnte sich, wurde immer größer und schien viel heller als die Sonne am Himmel. Durch ihre wärmenden Strahlen war die Kälte des Wassers vollkommen aufgehoben.
    In der Mitte der großen Sonne tauchte ein schwarzer Punkt auf. Heinz fixierte ihn genau. Seine ganze Aufmerksamkeit wandte er diesem Punkt zu, und dabei spürte er, wie sich ein wohliges Behagen in ihm ausbreite, daß er selbst es war, der mit geschlossenen Augen im Wasser lag.
    Ein dünner Faden verband den Heinz Apelt im Wasser mit dem Heinz Apelt auf der Wasseroberfläche. Sein Instinkt sagte ihm, daß dieser Faden auf keinen Fall abreißen durfte. Einer der beiden Körper mußte sein richtiger sein, aber im Zustand der Schwerelosigkeit konnte er nicht unterscheiden, welcher es war. Insgeheim hoffte er, der federleichte, von der großen hellen Sonne durchwärmte Körper möge sein wahres Ich sein.
    Ganz behutsam und vorsichtig machte er die ersten Schritte. Er fürchtete, durch eine ungeschickte Bewegung den Faden zu dem Schwimmer am Rettungsboot zu zerreißen. Doch der Faden war elastisch und gab nach. Langsam vergrößerte sich der Abstand.
    Seine Bewegungen wurden nun schneller. Leichtfüßig lief er über die Wasseroberfläche, die seinen aufrechten Körper mühelos zu tragen vermochte. Der Faden war noch da, der Schwimmer kaum noch zu erkennen.
    In geringer Entfernung sah er einen gelben Sandstrand. Immer noch befand sich die wärmende Sonne mit ihrem dunklen Punkt vor seinen Augen. Er brauchte sich gar nicht anzustrengen, um ihn im Gesichtsfeld zu behalten. Der Punkt war deutlich genug. Er wurde größer, wuchs und wuchs. Von der gewaltigen Sonne war nur noch eine ringförmige Korona übriggeblieben, und die wohltuende Wärme wich einer unfaßbaren Leere des Gefühls. Heinz wußte nicht mehr, ob sein Körper warm oder kalt war. Diese Begriffe waren gegenstandslos geworden. .
    Der Punkt hörte nicht auf zu wachsen. Nur wenige Augenblicke, dann würde er die letzten Strahlen verschluckt haben. Heinz spürte noch, daß die Lichtempfindung das einzige war, was ihn mit seiner Umwelt verband. Mit dem Schwinden des Lichts erstarb jeder andere Eindruck und jede andere Wahrnehmung. Tiefe Nacht breitete sich aus.
     
    Einige Wochen später rollte eine Lastwagenkolonne an die nordafrikanische Küste. Ein Zug Panzergrenadiere stieg aus. Die Männer lagen bei Tripolis in Ruhestellung. Sie wollten baden und einen Tag am Strande verbringen.
    Am Ufer fanden sie einen Haufen Knochen, dazwischen einzelne Fetzen blauer und hellgelber Kleidungsstücke.
    Die Soldaten erkannten, was hier geschehen war. Seit geraumer Zeit wurde ihre Kolonne von Geiern begleitet. Wohin sie auch zogen, überallhin waren ihnen die grauen Vögel mit den nackten rötlichen Hälsen gefolgt. Abfälle, tote Tiere und ungenügend mit Sand bedeckte Leichen fraßen sie mit Begierde. Ihre Fußspuren hoben sich deutlich im Sande ab. Kein Zweifel, an diesem Haufen Knochen hatten Geier genagt.
    Neugierig stocherten einige Männer mit ihren Feldspaten in den Resten: ein Unterkiefer, Röhrenknochen, Wirbel, Rippen. Schließlich entdeckten sie ein ovales Metallstück.
    Der Feldwebel befahl dem Jüngsten, das Metall aufzuheben. Es war eine Erkennungsmarke mit der Nummer 1477/42. An der Form sahen sie, daß der Tote ein Deutscher war.
    Der Feldwebel brach die untere Hälfte ab und steckte sie in die Tasche. Die Dienstvorschrif t war ihm hinlänglich bekannt.
    In Deutschland wurde ermittelt, zu wem die Knochen an der Küste der Cyrenaika gehörten: Matrose Heinz Apelt, geboren am 5. Oktober 1924, vermißt seit 17. September 1942.

 
    9. Kapitel
    Jahreswende
    Die Marineschule Flensburg-Mürwik lag einige Kilometer von der Stadt entfernt am Südufer der Flensburger Förde. Der düstere Ziegelbau stammte aus dem Jahre 1906. Tausende von Offizieren der kaiserlichen Marine, der Reichsmarine und später der Kriegsmarine hatten hier einen wesentlichen Teil ihrer Ausbildung durchlaufen. Mancher Admiral kannte die Schule noch aus seiner Fähnrichzeit, aber bei weitem nicht jeder Fähnrich, der monatelang in Mürwik aus und ein ging, brachte es bis zum Admiral.
    Zu drei Mann wurden die zweihundert Neuankömmlinge auf die Stuben verteilt. Die bequemen Betten und geräumigen Spinde kamen den meisten ganz fremd vor. Sie hatten die Enge eines Kriegsschiffes erlebt und mußten sich erst wieder normalen Verhältnissen anpassen. Großgewachsene Männer zogen aus

Weitere Kostenlose Bücher