Irrliebe
bezweifeln. Wir haben nicht nur Formulare gefunden, die er mit der Hand ausgefüllt und unterschrieben hat, sondern auch etliche Notizen in unterschiedlichen Zusammenhängen.«
Bekim Ylberi sah zufrieden auf.
»Wir haben jedenfalls Ansatzpunkte, die uns weiterbringen können«, erklärte er weiter. »Natürlich haben wir auch den Computer beschlagnahmt, der im Wohnbereich stand. Wir werden feststellen, ob die Briefe dort geschrieben worden sind. Unsere Spezialisten werden herausfinden, ob sie dort noch gespeichert sind oder einmal gespeichert waren. Und schließlich haben wir reichlich DNA-Spuren gesichert, unter denen auch welche von Pierre Brossard sind. Wir werden sie separieren und mit dem anderen Spurenmaterial abgleichen. Über Franziskas Tod haben wir bislang keine weiteren Erkenntnisse gewonnen. Ich muss auch überlegen, ob ich Ihnen etwas dazu sagen darf, Herr Knobel. Das Verschwinden von Herrn Brossard stellt uns vor Probleme. Seinen, wie ich vermute, auch Ihnen bekannten Brief an seine Ehefrau werten wir nach derzeitigem Stand nicht unbedingt als Abschiedsbrief. Wer aus dem Leben scheiden will, äußert sich nach unserer Erfahrung nicht so zurückhaltend. Aber das ist nur eine erste Einschätzung. Wir werden tiefer in das Verhältnis zwischen Franziska und Pierre eindringen müssen. Ich rätsele immer noch über das Dunkle, das sich seiner bemächtigt haben soll. Wir haben, das darf ich Ihnen verraten, im früheren beruflichen Umfeld von Pierre Brossard geforscht. Er galt mitnichten als ein dem dunklen Wesen zugeneigter Typ. Ganz im Gegenteil: Er galt als lebenslustig, optimistisch, wenngleich nicht als euphorisch oder unrealistisch. Herr Brossard wird übereinstimmend als Mensch beschrieben, der gern zupackte. Er galt nicht als zaghaft, zerbrechlich oder in irgendeiner Form düster in seinem Wesen. Es erscheint uns fragwürdig, dass ein Mensch dieses Typs eine solche Wandlung vollziehen soll.«
»Warum wurde er von seiner Firma entlassen?«, fragte Stephan dazwischen. »Soweit ich weiß, war er kaufmännischer Leiter bei der Baufirma, über die er anlässlich eines gemeinsamen Projekts Dominique kennenlernte.«
»Das ist richtig«, bestätigte Ylberi. »Gegen Brossard wurde der Vorwurf erhoben, dass er Mitarbeiter bespitzelt habe. Er soll Spinde danach durchsucht haben, ob einzelne Arbeiter Werkzeuge von den Baustellen mitgehen ließen, und sogar eine versteckte Kameraüberwachung in den Umkleideräumen und den Baucontainern installiert haben, um Mitarbeitern nachzuweisen, dass sie die Pausenzeiten ausdehnten. Die Geschäftsleitung wusste offensichtlich von diesen Vorfällen und billigte sie, musste aber äußerlich gegen Brossard vorgehen, als ihm die Belegschaft auf die Schliche kam und ihn anzeigte. Man kündigte ihm fristlos, um nach außen das zu tun, was man von der Geschäftsführung verlangte, zahlte ihm jedoch intern eine exorbitante Abfindung, wohl auch deswegen, damit er sein Wissen über die Herren in der Führungsebene für sich behielt, die vermutlich Initiatoren dieser Spitzelaffäre waren. Einen Prozess vor dem Arbeitsgericht gab es jedenfalls nie. Ich will also sagen: Ein Mensch mit diesen Strukturen passt nicht zu einem Typen, der irgendwann in dunkle Abgründe fällt.«
Ylberi hielt inne. Er war sich der Richtigkeit dieses Ergebnisses gewiss. Stephan dachte daran, was Marie ihm über die Gestaltung von Pierres Zimmer in der Pariser Wohnung erzählt hat. Er behielt sein Wissen für sich. Dominique war nun seine Mandantin.
»Von der Abfindung ließ sich gut leben«, folgerte Ylberi. »Er wurde also zum Privatier. Das führt zur nächsten Frage: Was macht so ein Mensch den ganzen Tag? Er lebt an der Seite seiner Frau, die in ihrem privaten und beruflichen Umfeld verschrien ist. Sie gilt als Workaholic, und – für uns bedeutender – als beinhart, rücksichtslos und herzlos. Sie drangsaliert ihre Mitarbeiter und beutet sie aus. An dieser Stelle, denke ich, haben wir eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit zwischen ihr und Pierre, denn seine Bespitzelungsmechanismen in der Baufirma passen bestens zu der Art und Weise, wie Dominique mit ihren Mitarbeitern umgeht. Beide wertschätzen diejenigen nicht, die unter ihnen arbeiten, sondern treten sie. In gewisser Weise sind beide Herrenmenschen. Auch so etwas verbindet. Wir haben wenige Aussagen über den Zustand der Ehe erhalten. Manche Personen, insbesondere aus Dominiques beruflichem Umfeld, trauen sich offensichtlich nichts zu sagen, oder
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