Irrliebe
wissen vielleicht auch nur wenig. Man sah Pierre Brossard gelegentlich in dem in den oberen Stockwerken befindlichen Studio, vornehmlich dann, wenn er irgendwelche Utensilien suchte, die er unten im Wohnbereich benötigte. Ansonsten sah man ihn nur hin und wieder zufällig im Hausflur. Dominique und Pierre sah man nur selten zusammen. Einen gemeinsamen Bekanntenkreis gab es so gut wie nicht. Beide führten offensichtlich ein recht eigenständiges Leben, und das bedeutet, dass Dominique oft allein in Dortmund und Pierre allein in Paris war. Für ein Paar, das ersichtlich keine besondere innere Bindung hat, ist so eine Lösung ideal. Man geht sich mühelos aus dem Wege. Diese Ausgangslage muss man im Blick behalten, wenn man sich der Lösung unseres Falles nähern will.«
Ylberi machte eine bedeutungsvolle Pause, und Stephan schloss sich den Gedanken des Staatsanwalts an.
»Wenn ein Paar sozusagen nebeneinanderher lebt, ohne sich zu trennen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten«, fuhr Ylberi fort: »Entweder will man sich nicht trennen, weil es finanziell unerfreulich ist. Ich denke, dass in diesem Fall Dominique tief in die Tasche greifen müsste, aber das müssen wir noch prüfen. – Sie wollen mir nicht zufällig auf die Sprünge helfen, Herr Knobel?«, unterbrach sich Ylberi, lachte und winkte sofort ab.
»Selbst wenn ich die Frage beantworten wollte, könnte ich es nicht tun«, sagte Stephan irritiert. »Ich weiß es nicht.«
»Vergessen Sie meinen Einwurf!« Ylberi sammelte sich. »Oder – und das ist die zweite Möglichkeit, die zu der ersten aber nicht im Widerspruch steht: Man lebt in loser Verbindung nebeneinander her – und will dies auch zukünftig tun. Was will ich damit sagen, Herr Knobel?« Ylberi machte eine Kunstpause. »Wenn die beiden – aus welchen Gründen auch immer – ihre nur lockere Ehe pflegen, dann wollen sie andersherum aber auch nicht, dass dieses lockere Band zerschlagen wird. Warum also soll ein Pierre Brossard mit einer anderen Frau eine Beziehung eingehen, der er schon nach kurzer Zeit signalisiert, in ihr seine Liebe gefunden zu haben, um für sie alles praktisch über Bord zu werfen? Denn der Brief Pierres an Franziska, dessen Ausdruck uns Frau Rühl-Brossard übergeben hat, liest sich so, als sei es zu schnell zu dieser Bindung gekommen. Warum macht ein Mensch wie Pierre Brossard, der nach unseren Ermittlungen eher kühl und abgezockt ist, so etwas? Kommen Sie mir nicht mit plötzlicher Liebe, Herr Knobel! So etwas passt nicht in unsere Geschichte. Denn hier geht es darum, binnen kürzester Zeit eine fast irreale Intimität aufzubauen, um sich dann genauso schnell wieder daraus zu entfernen. Man kann sich doch gar nicht vorstellen, dass dies ein Pierre Brossard macht, der abgeklärt über Jahre eine Ehe pflegt, in der er sich bequem eingerichtet hat und die er, das betone ich, doch gerade nicht aufgeben will. Stattdessen findet er – noch darüber über eine Kontaktanzeige im Kult-Mund – eine Frau, der er sich aus dem Stand heraus hingeben will, bevor er sich dann ganz schnell wieder von ihr abwendet. So einem Typen wie Pierre Brossard traue ich, ohne ihn zu kennen, alle möglichen Verhältnisse und Eskapaden zu. Nur eines passt nicht zu ihm, und das macht mich stutzig. Nämlich …«
Ylberi lehnte sich entspannt zurück und musterte Stephan wie einen Schüler.
»Nähe, Herr Knobel«, vollendete er seinen eigenen Gedanken. »Ich sagte es doch gerade. Pierre Brossard ist kein Mensch, der Nähe aufbaut. Warum soll er es hier getan haben? Vergegenwärtigen Sie sich Franziskas Anzeigentext: Was soll einen Pierre Brossard daran reizen? Spontane Gefühle oder das mystische Dunkle?« Er lächelte milde. »Sie wissen, dass das Unsinn ist. Mag ja sein, dass auch ein Pierre Brossard sich tatsächlich einmal verlieben würde, aber das geschieht nicht von einem Augenblick auf den anderen. Da muss erst einmal eine innere Revolution stattfinden. Ein solcher Mensch gibt sich – schon aus Kalkül – keiner schnellen Beziehung hin, in der er eine Nähe zulässt und auslebt, die ihm gefährlich werden könnte.«
»Deshalb ja der Verdacht, dass er sich von Franziska gewaltsam getrennt hat, als sie nicht loslassen wollte«, wandte Stephan ein.
»Aber Ihr Ansatz ist ein anderer«, widersprach Ylberi. »Es erscheint nicht vorstellbar, dass es überhaupt zu dieser Nähe gekommen ist. Denn wer sich – und sei es durch Tötung eines anderen – gewaltsam nach kurzer Zeit von einem
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