Irrliebe
Menschen trennt, muss vorher schon Vorbehalte gehabt haben, sich überhaupt auf ihn einzulassen. Ein solch extremer Wechsel in kurzer Zeit ist nur bei glühender Leidenschaft denkbar. Aber nicht bei unserem Hauptdarsteller. Pierre Brossard ist wie seine Frau, nämlich kühl und kalkulierend. Solchen Menschen passiert so etwas nicht. Das ist meine These.«
Ylberi verschränkte zufrieden die Arme und blickte Stephan abwartend an.
»Franziskas Anzeige war schon etwas Besonderes«, meinte Stephan.
»Das relativiert nicht, was ich gerade gesagt habe«, beharrte Ylberi. »Wenn unsere Einschätzung des Charakters von Pierre Brossard zutreffend ist, passt die Affäre mit Franziska nicht zu ihm. Wir werden noch viel tiefer einsteigen müssen«, war er überzeugt. »Auch in Franziskas Struktur. Was für eine Frau war sie? Sie lebte mit Daniel zusammen, einem durchaus netten, aber gleichermaßen naiven und in mancher Hinsicht lebensuntauglichen Mann. Franziska wollte sich von ihm trennen. Aber suchte sie einen Pierre Brossard? Welche ihrer Sehnsüchte sollte er stillen können? Denken Sie daran, wie ich ihn skizziert habe. Franziska ihrerseits scheint ein problematischer Mensch gewesen zu sein. Ihre Lebensgefährtin, Herr Knobel, war nach eigenen Angaben nicht wirklich mit ihr befreundet. Genau das hat Franziska jedoch gegenüber Daniel behauptet. Das Gleiche gilt im Übrigen auch für ihre Freundin Frauke, die sie aus der Berufsausbildung kennt und die mittlerweile zu ihrem Freund nach Frankfurt gezogen ist. Ihre Nummer war in Franziskas Handy gespeichert. Auch zu Frauke bestand nur ein loser Kontakt, vielleicht schon wegen der räumlichen Entfernung. Man hat hin und wieder telefoniert, sich auch ein- oder zweimal im Jahr getroffen. Aber es war – jedenfalls nach Bekunden der Freundin Frauke – keine intensive Beziehung, in der die eine vertieft Anteil am Leben der anderen nahm – und umgekehrt. Ein bisschen hört es sich so an, als sei Frauke froh darüber, dass die räumliche Distanz sie daran hinderte, den Kontakt enger werden zu lassen. Der letzte Kontakt war Mitte August. Da lieh sich Franziska von ihrer Freundin ein Zelt aus, in dem die beiden zu Zeiten ihrer gemeinsamen Ausbildung bei gelegentlichen Freizeiten in Holland campiert hatten. – Ist was, Herr Knobel?« Ylberi musterte Stephan.
»Nein.«
»Während der Ausbildung zur Krankenschwester war der Kontakt zwischen Frauke und Franziska recht eng. Ich sehe eine gewisse Parallele zu dem Verlauf der Beziehung zwischen Ihrer Freundin und Franziska, wenn ich Fraukes Andeutungen über Franziskas Charakter richtig verstehe. Franziska Bellgardt war allein. Sie hatte auch keine engeren privaten Kontakte zu dem Personal in dem Hospital in Kurl. Sie war vom Leben enttäuscht, und sie fand ihre Erfüllung auch nicht in ihrer Beziehung zu Daniel. Also inserierte sie. Aber ist ein Mensch wie Brossard derjenige, den sie wirklich suchte?«
Ylberi nahm die Akte zur Hand, blätterte darin und las langsam Franziskas Anzeigentext vor. Als er geendet hatte, wiederholte er seine Ausgangsfrage.
Stephan schwieg. Er dachte an das von Marie beschriebene Zimmer in Paris mit den an die Wand geklebten Zeitungsausschnitten über Katastrophen und Tragödien. Marie hatte gesagt, dass es in dem Zimmer nach Farbe gerochen habe. Dominique hatte dies zunächst bestritten. Pierre soll das Zimmer vor einigen Monaten mit schwarzer Latexfarbe gestrichen haben. Die dubiose Vorliebe für das Düstere würde auf den ersten Blick erklären, was Pierre an Franziskas Anzeige fasziniert haben könnte. Aber was sollte in Pierres Leben passiert sein, das diese fundamentale Veränderung ausgelöst hat?
»Sie sagen ja gar nichts«, staunte Ylberi. »Kommen Ihnen etwa Zweifel?«
Er stand auf, verschwand kurz im Nebenzimmer und kehrte mit einer Klarsichthülle zurück, in der sich ein Schriftstück befand.
»Wir haben heute Morgen im Hause der Eheleute Brossard weitere Dokumente gefunden, unter anderem diesen Brief Pierres an Franziska.« Er reichte Stephan die Klarsichthülle. »Lassen Sie den Brief bitte in der Hülle, wir müssen ihn noch kriminaltechnisch untersuchen«, bat er.
Stephan sah auf das Blatt. Es handelte sich wieder um einen Ausdruck aus dem Computer. Oben links stand Franziskas vollständige Wohnadresse, rechts das Datum: Montag, 19. Oktober, also vier Tage vor Franziskas Tod.
Stephan las:
Hallo Franziska, alle meine Versuche, mit Dir zu reden, scheitern. Meinen letzten Brief hast Du
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