Irrliebe
einer neuen Sicht der Dinge zwingt«, antwortete der Staatsanwalt. »Wir werden die Karte genau untersuchen. Bis gerade war ich mir sicher, dass es niemals eine Affäre zwischen Franziska und Pierre gegeben hat.«
»Und das heißt?«, fragte Stephan.
»Dass alles nur ein Fake ist«, sagte Ylberi ungerührt. »Es lohnt sich, die Dinge immer etwas differenzierter zu betrachten. Diese Chiffre-Geschichte mit den Briefen passt nicht, Herr Knobel. Dessen bin ich mir sicher. Erklären Sie mir, warum wir auf Franziskas Handy nicht einmal Brossards Handynummer gefunden haben?«
»Das lässt sich erklären«, meinte Stephan. »Beide haben sich stets direkt für das jeweils nächste Treffen verabredet. Keine Telefonate. Bereits dem ersten Treffen ging kein Telefonat voraus. Vielleicht wollten beide vermeiden, dass man auf den Handys die Nummer des jeweils anderen finden kann. Beide lebten schließlich noch in ihren Beziehungen.«
Doch Ylberi ließ sich nicht überzeugen.
»Erregt dies nicht Ihr Misstrauen, Herr Knobel? Ich frage mich immer, wie sich ein Anwalt gegenüber seinem Mandanten positioniert, wenn sich die Schlinge um den Hals des Klienten zuzieht. – Vielleicht ist es gut für Frau Rühl-Brossard, dass sie jetzt anwaltlich vertreten wird. Gut möglich, dass wir sie bald verantwortlich als Beschuldigte vernehmen werden.«
»Weswegen?«, fragte Stephan.
»Vielleicht ist sie Urheberin der Briefe. Ich weiß es noch nicht. Aber wenn sie es ist, hat dies ganz sicher auch mit Franziskas Tod und mit Pierres Verschwinden zu tun. Wir werden die Sache aufklären, auch wenn sie verzwickt ist.«
Staatsanwalt Ylberi erhob sich. Stephan merkte, dass ihm die Postkarte aus Traben-Trarbach nicht aus dem Kopf ging.
»Franziska hat übrigens ihrer Freundin das Zelt nicht zurückgeschickt«, fügte Ylberi an.
»Sie sagen auch nicht sofort alles, Herr Ylberi«, konterte Stephan. »Und was schließen Sie daraus?«
»Es gibt keinen DNA-Spurenträger, der nachweisen könnte, wer da mit wem zusammen war, Herr Knobel. Das fiel mir gerade ein, als Sie sagten, dass Franziska und ihr Begleiter nicht im Moselgold genächtigt haben. Auf der Rasenfläche eines Zeltplatzes finden Sie nach mehreren Wochen nichts mehr, in einem Hotelzimmer schon. Es ist so ähnlich wie auf dem menschenleeren Bahnhof Kurl bei Starkregen. Sie verstehen, was ich meine: In diesem Fall ist wenig greifbar und vieles – im Wortsinne – flüchtig. Würden Sie in einem Zelt schlafen, wenn ein paar Meter weiter ein passables Hotel ist?«
»Vielleicht fanden die beiden das romantisch«, meinte Stephan.
»Meinen Sie denn, die beiden hätten in ihrem Zelt zärtlich zueinander sein können, wenn drum herum die anderen in ihren Zelten und Wohnwagen lauern?«, fragte Ylberi amüsiert. »Wie naiv denken Sie denn?«
»Vielleicht fanden sie das erregend«, mutmaßte Stephan.
Ylberi winkte ab.
»Denken Sie an meine Worte, Herr Knobel: Sowenig ich daran glaube, dass die in den Briefen romanhaft beschriebene Beziehung zwischen Franziska und Pierre zu dem Typ Brossard passt, wie er sich im Leben darstellt, sowenig passt zu diesem Menschen ein Wochenende in einem kleinen Zelt. Brossard suhlt sich im Luxus. Sehen Sie sich die Wohnung im Kreuzviertel an, in der er sich doch offensichtlich sehr wohlfühlte! Übernachtet so ein Mensch unbequem in einem kleinen Zelt? Der Mann ist längst aus seiner Jugendzeit heraus!«
»Und wer soll dann der Mann sein, mit dem Franziska an der Mosel war?«, fragte Stephan zurück.
12
Als Stephan gegen 15 Uhr Ylberis Büro verließ, kreisten seine Gedanken noch lange um das Gespräch, das ihm unvermittelt bewusst gemacht hatte, dass er mit der Vertretung Dominiques einen Fall übernommen hatte, der mit jedem weiteren bekannt werdendem Detail mehr Fragen aufwarf als löste. Die Zweifel des Staatsanwaltes schienen logisch und fast zwingend, und es stimmte, dass alles, was man über die Beziehung zwischen Franziska und Pierre wusste oder zu wissen glaubte, nur aus den Ausdrucken der beiden Briefe stammte, die für Franziska bestimmt zu sein schienen, sie aber augenscheinlich nie erreicht hatten. Die Postkarte aus Traben-Trarbach und die Aussagen des Hotelier-Ehepaares vom Moselgold gaben die ersten Hinweise auf die tatsächliche Existenz einer Affäre zwischen Franziska und einem Mann, der möglicherweise tatsächlich Pierre Brossard war. Wenn es diese Beziehung gegeben haben sollte, musste sie auch andernorts gelebt worden sein, denn es
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