Irrliebe
in eine düstere und ebenfalls mit Sprayfarben verzierte Betoneinhausung auf den Bahnsteig. Stephan entschied sich für den linken Aufgang und gelangte auf den mit rötlichem Klinkerpflaster ausgelegten Bahnsteig. Es regnete, wenn auch längst nicht so stark wie zum Zeitpunkt des Unglücks. Stephan sah auf ein schmuckloses Wartehäuschen aus Beton. Er ging hin, doch es war leer. Der Regen fiel sanft auf den Boden, sammelte sich in Rinnen und floss glucksend in die Kanalisation. Im gelblichen Schein der Lampen glitzerten und funkelten die Tropfen auf dem unwirklich schimmernden rötlichen Pflaster. Es war still. Stephan ging unsicher weiter bis zum östlichen Ende des Bahnsteigs. Neben dem rechten, in die Dunkelheit führenden Gleis, warf ein Signal gelbes, weit hinten ein rotes Licht in die Nacht. Stephan kehrte um, passierte das Wartehäuschen, schließlich die graue Wand des Wetterschutzes der zum Ausgang führenden Treppen. Dann stand Ylberi plötzlich vor ihm. Stephan erschrak unwillkürlich. Er hatte den anderen nicht gesehen. Ylberi war aus dem Schatten des überkragenden Daches hervorgetreten, der wie ein Deckel die Treppenanlage nach oben gegen die Witterung abschirmte. Er begrüßte Stephan.
»Sie haben mit mir gerechnet, und ich habe Sie dennoch überraschen können«, stellte der Staatsanwalt fest und schlug den Kragen seines Mantels hoch, als er in den Regen trat. Ylberi trug eine randlose Brille mit kreisrunden Gläsern, auf denen die Regentropfen Perlen bildeten. Er nahm die Brille ab, wischte über die Gläser und setzte sie wieder auf.
»Schauen Sie sich um, Herr Knobel«, sagte er. »Es gibt im weiten Umfeld meines Wissens keinen Bahnhof, auf dem sich ungestörter töten lässt. Ein verlassenes Bahnhofsgebäude, nur ein Bahnsteig, auf dem sich ohnehin nur selten Fahrgäste aufhalten, weil die wenigsten Züge hier halten, ein dunkler Wetterschutz aus Beton und diese monströse düstere Überdachung der Treppenabgänge. Sie finden überall Nischen und Verstecke. Jenseits der beiden Gleise sprießt üppige Vegetation. Zuschauer von außen gibt es nicht. Von den Wohnhäusern auf der Seite, auf der das Empfangsgebäude steht, hat man zumindest im Sommer und im Herbst, wenn sich noch Laub an den Bäumen befindet, keinen Einblick in das Bahngelände. Kein vernünftiger Mensch hält sich hier freiwillig auf. Ich vermute, einige nutzen die Bahn schon wegen dieser örtlichen Verhältnisse nicht und fahren lieber mit dem Auto oder mit den städtischen Bussen. Der Tunnel unten ist ein Geisterort, und überall stinkt es bestialisch.«
»Ist es hier passiert?«, fragte Stephan beklommen.
»Ja, an der Stelle, an der ich Sie gerade empfangen habe, Herr Knobel. In Höhe des oberen Absatzes der westlichen Treppe. Aber nicht auf dieser Bahnsteigseite, sondern gegenüber.« Er wandte sich um. »Kommen Sie!« Sie gingen auf die andere Seite und standen nun an dem Richtung Hauptbahnhof führenden Gleis.
»Hier an dieser Stelle lag Franziska bereits im Gleis oder wurde auf das Gleis gestoßen«, sagte er. »Was genau geschah, können wir immer noch nicht weiter aufklären. Tatsache ist, dass im Falle eines Mordes der Täter oder die Täterin Franziska im Schutze des Treppenaufganges aufgelauert haben könnte. Man bemerkt niemanden, der sich dort versteckt hält. Das haben Sie gerade selbst festgestellt. Hat die Person dort Franziska aufgelauert, müsste sie sie maximal über eine Distanz gestoßen haben, die von der Außenkante dieser Wand bis zur Bahnsteigkante reicht. Das sind nach meiner Messung genau 185 cm. Eine kräftige Person kann das ebenso wie eine weniger kräftige, wenn der Stoß technisch richtig ausgeführt wird, zumal natürlich das Überraschungselement hilft. Wir wissen, dass der Lokführer Franziska erst Sekundenbruchteile vor dem Zusammenstoß wahrgenommen hat. Das ist glaubhaft. Wir haben vor einigen Tagen, als nachts ähnlich starker Regen war, eine Führerstandmitfahrt gemacht. Bei starkem Regen ist nachts nicht zu erkennen, ob etwas auf den Gleisen liegt und was es ist. Die Scheibenwischer der Lokomotiven haben keinen Schnellgang, der mit jenen der Autos vergleichbar wäre. Lokomotivführer müssen nicht jede Einzelheit wahrnehmen können, sondern fahren sicher, wenn die Streckensignale erkennbar sind. Folglich sind auch die Lichter an den Lokomotiven keine Scheinwerfer, die die Strecke ausleuchten sollen. Sie dienen vielmehr den anderen Verkehrsteilnehmern als Warnsignal. Also war die Tatzeit,
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