Irrliebe
gewesen.
»Wer wird Sie vertreten, wenn ich fragen darf?«
»Herr Löffke«, antwortete sie knapp.
»Löffke?«, staunte Stephan. »Sie hatten der Kanzlei Hübenthal damals den Rücken gekehrt, weil Sie unzufrieden waren. Die besseren Anwälte sitzen doch in Düsseldorf, oder irre ich?«, fragte er gereizt.
»Sie sind nicht souverän, Herr Knobel«, lächelte sie überlegen. »Im Geschäft müssen Sie immer wieder neue Wege gehen – und manchmal auch alte Wege neu beschreiten. Es ist wie in der Architektur: Kein Gedanke, keine Idee ist verboten. Nur so entsteht Neues.«
Dominique Rühl-Brossard wirkte eigenartig entrückt. Als sich Stephan erhob, um die Mandantin zu verabschieden, klopfte es an seine Bürotür, die zeitgleich von Hubert Löffke geöffnet wurde. Der bullige Kollege füllte im schwarzen Dreiteiler den Türrahmen. Er trug tadellos geputzte Lackschuhe, ein elegantes, modern geschnittenes weißes Hemd und eine korrekt gebundene rote Seidenkrawatte.
»Gnädige Frau, darf ich Sie in mein Büro begleiten«, säuselte er galant.
Frau Rühl-Brossard warf ihren Kopf nach hinten, schlug den violetten Schal über die Schulter und folgte bereitwillig.
»Darf ich fragen, ob Sie nach wie vor einen Latte Macchiato bevorzugen?«, erkundigte sich Löffke artig, indem er die Tür weit öffnete und seiner Mandantin den Vortritt ließ.
»Ich habe vorausschauend geordert, natürlich zusammen mit dem feinen englischen Gebäck, Frau Rühl-Brossard. Ganz wie in alten Zeiten«, übte er sich salbungsvoll in ihm sonst fremden Gepflogenheiten.
Dominique strebte entschlossenen Schrittes aus Stephans Büro.
Löffke blinzelte Stephan kurz an, als er sich abwandte.
»Tut mir leid, Kollege Knobel«, schnaufte er leise. »Es gilt freie Anwaltswahl. Sie kennen den Grundsatz.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Anzug war zu warm.
Stephan blickte nachdenklich an die Decke seines Büros. Die alte Leuchtstoffröhre warf ihr künstliches Licht in den Raum. Er sah auf den Notizzettel, auf dem er die Fragen aufgeschrieben hatte, die er Dominique stellen wollte: Wer konnte bezeugen, dass Pierre, wie Dominique gegenüber Marie behauptet hatte, in letzter Zeit sonderbar geworden war, und wie zeigte sich dies? Warum war Pierres Zimmer in Paris erst vor Kurzem schwarz gestrichen worden und wie kam es dazu? Hatte Pierre jemals Interesse gehabt zu zelten? Wie erklärte sich Dominique, dass Pierre die fraglichen Briefe auf dem Computer geschrieben hatte? Hatte sie selbst nach Pierres Verschwinden den Computer intensiver benutzt, sodass man im Wesentlichen nur ihre Fingerabdrücke auf der Tastatur fand? Warum hatte Dominique nichts davon erzählt, dass Pierre angeblich schon häufiger für eine gewisse Zeit einfach verschwand? Wusste sie, wo er sich in dieser Zeit aufgehalten hatte? Besaß Pierre ein rotes Fahrrad?
Stephan hatte noch weitere Fragen, die zu stellen er sich vorbehalten hatte und auf den Kern zustießen: Hatte Dominique die Briefe selbst geschrieben? Hatte sie Marie am Ende nur nach Paris gelockt, damit sie Zeugin der angeblichen inneren Wandlung von Pierre sein konnte? Sollte sie Augenzeugin der schwarz gestrichenen Wände mit den aufgeklebten Katastrophennachrichten sein? War am Ende der Fund der Postkarte durch Marie seitens Dominique arrangiert worden, indem sie die Tür zu Pierres Zimmer etwas geöffnet und so den Sprung der Katze auf das Bett provoziert hatte, der den kalkulierten Tausch der Bettwäsche nach sich zog?
Stephan steckte den Notizzettel wieder in die Innenseite seines Sakkos. Er würde diese Fragen Dominique nicht mehr stellen müssen. Stephan sah auf die Uhr. Punkt zwölf. In einer halben Stunde hatte sich ein neuer Mandant angekündigt: Beratung in einer Nachbarschaftsstreitigkeit. Der von der Empfangssekretärin im Erdgeschoss gefertigte Vermerk enthielt das Kürzel BH. Das hieß: Mandant ist nicht vermögend, er kommt auf Beratungshilfeschein. Stephan lächelte bitter.
Als er am frühen Abend sein Büro abgeschlossen und dem Ausgang im nobel ausgestatteten Erdgeschoss zustrebte, fiel noch Licht aus Löffkes Büro in den Flur. Stephan tastete sich über die Marmorfliesen vor und spähte vorsichtig hinein. Löffke saß behäbig hinter seinem Schreibtisch und schien Stephan erwartet zu haben. Er schmauchte eine Zigarre.
»Wir haben die Gräfin wieder eingefangen«, dröhnte er stolz und lehnte sich zurück. »Sie wird jetzt mit allen Sachen nur noch zu mir kommen. Die Düsseldorfer
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