Irrliebe
abzuwarten. Dies und der Umstand, dass nicht damit kalkuliert werden konnte, dass sich zur Tatzeit niemand auf dem Bahnsteig aufhielt, der die Tat hätte beobachten können, führt zu der Annahme, dass Franziska, sollte sie sich nicht selbst umgebracht haben, von einer Person ermordet wurde, die sie kannte und mit der sie häufiger am Ende ihrer Spätschicht hier wartete.«
Stephan vollzog Ylberis Schlussfolgerungen nach.
»Wenn das so ist, werden Sie durch Befragung aller Lokführer, die in den vergangenen Wochen diesen Haltepunkt Richtung Hauptbahnhof passiert haben, erfahren können, ob dort eine Frau häufig mit einer anderen Person wartete«, sagte Stephan.
Ylberis Augen funkelten hinter den nassen Gläsern.
»Sehr gut«, urteilte er. »Wir haben diese Befragung durchgeführt, zumal das Bahnpersonal auch aus vielen anderen Städten stammt und deshalb nicht unbedingt die Dortmunder Zeitungen liest. Und tatsächlich konnte sich der Lokführer, der zwei Tage vor der Tat, also am 21. Oktober, den in Kurl durchfahrenden Zug steuerte, erinnern, dass eine Person, die Franziska sein konnte, mit einem Mann auf dem Bahnsteig stand, und zwar genau im Schein einer dieser Bahnsteiglampen.«
»Und das wusste der so genau?«, staunte Stephan.
»Er wusste es, weil er mit seinem Zug wegen eines angekündigten Haltesignals deutlich langsamer durch den Bahnhof fuhr und der Mann, den der Lokführer jedoch nicht näher beschreiben konnte, kurz vor Durchfahrt des Zuges eine leere Coladose wie einen Fußball auf das Gleis trat. Die Frau musste sich darüber aufgeregt haben, denn sie boxte den Mann daraufhin in die Seite. Deshalb hat der Lokführer an sie eine etwas genauere Erinnerung. Sie trug nämlich eine rosafarbene Steppweste. Und eine solche haben wir bei Franziska Bellgardt zu Hause gefunden.«
»Aber wenn es einen Mann gab, der an mehreren Tagen mit Franziska am Bahnsteig stand, um den geeigneten Moment abzupassen, an dem er seine Tat begehen konnte, dann muss dieser Mann doch irgendwo abgeblieben sein«, wandte Stephan ein.
»Wenn er mit Franziska zusammen war, müsste er mit ihr in den Zug eingestiegen sein, mit dem sie abends jeweils von Kurl nach Dortmund fuhr«, lächelte Ylberi. »Das meinen Sie doch?«
Stephan nickte.
»Haben wir überprüft«, bestätigte Ylberi. »Wir haben das Personal aller in Betracht kommenden Züge befragt und ein Foto von Franziska vorgelegt. Einige Schaffner erkannten sie wieder oder meinten dies jedenfalls. Sie saß gewöhnlich allein im Steuerwagen des Zuges, nahe dem Führerraum. Das tun viele Frauen, wenn sie nachts mit der Bahn fahren. Sie fühlen sich dort sicherer. Es ist uns heute gelungen, die Schaffnerin zu sprechen, die den Zug begleitete, den Franziska an dem Abend nahm, an dem sie die rosafarbene Weste trug, also am Abend des 21. Oktober. Die Schaffnerin war im Urlaub und bis heute nicht erreichbar gewesen. Wir haben ihr das Foto von Franziska vorgelegt, und sie erkannte sie zweifelsfrei wieder. Franziska saß an jenem Abend wieder vorn im Steuerwagen. Sie war nicht allein. Sie war in Begleitung des Mannes, mit dem sie mutmaßlich zuvor hier auf dem Bahnsteig gewartet hatte. Die beiden hatten Streit. Der Mann war laut geworden und fuchtelte, wie sie sagte, erregt mit den Händen. Die Schaffnerin kontrollierte die Fahrkarten. Franziska hatte eine Dauerkarte, der Mann eine Einzelfahrkarte. Währenddessen stritten die beiden weiter. Der Mann soll einen deutlichen französischen Akzent gehabt und Franziska gesagt haben, dass es so nicht weitergehe. Er fühle sich erdrückt. Was Anlass des Streites war, konnte die Bahnmitarbeiterin nicht sagen. Sie ist dann weitergegangen und hat andere Fahrgäste kontrolliert. Wir haben ihr auch das Foto von Pierre Brossard vorgelegt. Aber sie hat ihn nicht zweifelsfrei erkannt. Eher meinte sie, dass er es nicht gewesen sei. Das Passfoto von Brossard ist zwar einige Jahre alt, trifft ihn jedoch nach Angaben von Personen, die ihn kennen, recht gut und ist deshalb noch aktuell. Es ist übrigens der einzige Hinweis, dass Franziska jemals in Begleitung eines anderen den Zug nach Dortmund nahm. Sonst ist sie offensichtlich immer allein gefahren. Das führt natürlich zu der Frage, wo der Mann, wenn er der Täter war, an den anderen Abenden geblieben ist, wenn Franziska in den Zug stieg. Nach meiner These wird er häufiger auf dem Bahnsteig gewesen sein.«
Stephan berichtete von dem Mann mit dem roten Fahrrad, von dem ihm Daniel erzählt, wo und
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